Der Nutzen von „Zwischenräumen“ für eine gelingende Transformation
Nur allzu gerne rauschen wir über Grenzbereiche zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ hinweg, macht es doch Angst in einer Zeit des Übergangs zu leben. Damit echter Wandel gelingen und sich Neues überhaupt zeigen kann, wären konsequentes Loslassen und das Aushalten von „Offenheit“ gefragt. Es gälte, den Mut dafür aufzubringen, durch- und auszuhalten und Zwischenräume als Ressource zu nutzen. Dazu braucht es vereinbarte Übergänge, gestaltete Zwischenräume.
Zeiten des Übergangs bieten nichts Verlässliches, alles wird eher rätselhaft. Überschaubare Ordnungen und vor allem ein für die Zukunft tragfähiger Sinn müssen erst wieder gefunden werden. Sich dieser Aufforderung zu stellen heißt, sich auf einen Findungsprozess einzulassen. Nur zu suchen, also „das Ausgehen von alten Beständen und das Finden wollen des Neuen im bereits Bekannten“ (P. Picasso), reicht bei weitem nicht aus. Denn das, was es für einen echten Wandel braucht, nämlich Sinn und tragfähige Orientierung, ist zunächst offen.
Den neuen Weg zu finden, würde bedeuten, offen zu werden für das wirklich Neue. Die Substanz dieses sich Einlassens ist ein Grundvertrauen in die gesamte Ordnung der in der Organisation wirkenden Kräfte, in eine innere Gewissheit, dass das Loslassen nicht ins Bodenlose führt, sondern dass erst die damit gewonnene Freiheit den Blick für neue Möglichkeiten öffnet.
Dazu braucht es Raum und Zeit. Nun haben wir mit dem noch immer vorherrschenden Effizienz-Paradigma verlernt, uns diese Zeit zu nehmen. Wir flüchten uns in unserem Streben nach Sicherheit in endlose Planungen oder schnelle Lösungen. Wir nehmen uns zu selten den Raum, um bewusst über die Schwelle von Unsicherheit und Ungewissheit zu gehen – Raum für die Entfaltung unseres menschlichen Potenzials, unserer Wahlfreiheit und damit unserer Verantwortung.
Ein konzeptioneller Rahmen für praktische Anknüpfungspunkte
Einen geeigneten konzeptionellen Rahmen für die praktische Umsetzung des „Zwischenraum-Konzepts“ bieten auf der Prozessebene die Leitgedanken von Otto Scharmer et. al., konkretisiert in der „Theorie U“1. Demnach gilt es, dem ständigen Planen, Machen, dem schnellen unreflektierten Downloaden oder dem permanenten „Feuerwehreinsatz“ eine andere Qualität des Gestaltens entgegenzusetzen. Gefordert sind die Fähigkeiten, das Geschehen (möglichst „ohne Urteil“) zu beobachten, mit Empathie den organisationalen Stimmen zuzuhören, im Weiteren aus den persönlichen und kulturellen Quellen heraus die eigentlichen subjektiven und organisationalen Absichten zu erforschen. So wird es möglich, dem zu folgen, was sich aus der inneren Gewissheit heraus an Neuem zeigen will. In diesem Prozess stecken vielversprechende Möglichkeiten, unserem schnellen Downloaden von Bewährtem, letztlich unseren eingefahrenen (individuellen und kulturellen) Denkmustern zu entgehen. Es sollte gelingen, die richtigen Fragen zu finden und den eigentlichen Intentionen auf die Spur zu kommen. Darum geht es im Kern: mit der Aufrichtigkeit unseres Wollens das wirklich „Andere“ zu entwickeln, sodass wieder Sinn und Ausrichtung entstehen können – und dies auf persönlicher und organisationaler Ebene.
Die Kraft des Übergangs in persönlichen Entwicklungsprozessen
Birgit Williams, kanadische Organisationentwicklerin und Gründerin des Genuine Contact Netzwerkes, verweist auf den entscheidenden Punkt, wenn es darum geht in einen Zwischenraum (sie spricht von „Grenzraum“) einzutreten. Es ist die Schwelle, also jener Ort und jene Zeit des Eintritts oder Beginns, wenn das Alte in der Vergangenheit liegt und das Neue noch nicht begonnen hat. Ein Leben in diesem Zwischenraum zu führen, fühlt sich für uns Menschen äußerst schwierig an. Es ist schon eine prägende Erfahrung, in der Zeit des Ungeklärten, sich dem offenen Geschehen hinzugeben und zugleich stabil zu bleiben. Ohne Not begeben wir uns nur schwer in eine solche Situation.
Persönlich erfuhr ich die Bedeutung eines solchen Übergangs, als meine Aufgabe als Manager in einem Großunternehmen weggefallen war. Die einzige innere Gewissheit war die, dass es nicht mehr so sein wird wie bisher, und es auch kein Mehr vom Selben geben kann. In einer solchen Phase helfen Rituale. Sie helfen, sich weiterzuentwickeln, damit ich als Person eben nicht im Zwischenraum stecken bleibe. Ich selbst habe mich in meinem zeitlichen „Moratorium“ für mehrere Wochen in die Natur zurückgezogen. Unterstützt durch über Jahre hinweg kennengelernte und eingeübte Rituale der Selbstführung war es mein Highlight, „auch in der Angst des Loslassens die Gnade des Aufgehoben-sein im Offenwerden neuer Möglichkeiten zu erfahren“ (Picasso). Heute „gönne“ ich mir diese Zwischenräume immer wieder, um bewusst die eingeübten Muster, das Selbstverständliche zu durchbrechen, zumindest aber, um sie immer wieder in Frage zu stellen. Der eigentliche Nutzen des Aushaltens und Ausgestaltens solcher „Grenzräume“ liegt darin, den eigenen „Bottom of the U“ zu erfahren. Aus dieser Quelle schöpfend kann ich dann wieder in der eigenen (beruflichen) Lebenswelt mit veränderten Perspektiven wirksam sein. Allerdings gehört es dann auch zu meiner Erfahrung, dass sich das Neue erst im sozialen Miteinander konkretisiert. Insofern ist es auch im Sinne der Selbstführung geboten, Zeiten des Übergangs so zu gestalten, dass das Aushalten in eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit mündet.
Eine Ressource für organisationale Transformationsprozesse
Einer der Leitgedanken von Inovato, „Die Kraft entsteht Dazwischen“, begründet die Ausrichtung der beraterischen Tätigkeit auf Kernfragen des zwischenmenschlichen und organisationalen Zusammenwirkens in solchen Zwischenräumen: dort, wo es in Organisationen zu Brüchen kommt zwischen dem, was nicht mehr ist, und dem, was noch nicht klar ist. Ihre Forschungs- und Interventionskonzepte aktivieren die Kräfte, die an der Schwelle zu einem Neuanfang gehoben werden können. Gerade wenn die Umstände es erfordern, in einer längeren Zeit der Unsicherheit zu verharren, werden die damit einhergehenden Unklarheiten, die dahinwabernden Gefühle und emotionalen Ambivalenzen für die Veränderung genutzt. Ziel ist es, zunächst zu entschleunigen, dieses „Dazwischen“ bewusst zu thematisieren, um dann die Fähigkeit des jeweiligen Systems zu aktivieren; und zwar so, dass wieder ein neues Gleichgewicht entsteht und die Beteiligten in ihrer Gestaltungskraft gestärkt werden. Das „Dazwischen“ wird zur Grundlage dafür, dass sich die Organisation als Ganzes für einen zukunftsgerichteten Weg entscheiden kann.
Nun ist es offensichtlich, dass Organisationen nicht ohne weiteres „glauben“, sich einem solchen Zwischenraum hingeben zu können. Deshalb ist es notwendig, Zeiträume des Übergangs als solche zu „zelebrieren“. Anstelle der schnellen, energieraubenden Change- und Planungs-Meetings wären z.B. zielgruppen- oder auch bereichsspezifische Übergangsräume zu gestalten. Das bedeutet u.a., möglichst alle Betroffenen in eine aktive Rolle der Auseinandersetzung zu bringen. Es gilt gemeinsam herauszuarbeiten, welche Schwellen zu überschreiten sind, was wirklich loszulassen ist, welche Chancen und Risiken auf organisationaler und individueller Ebene mit dem Geschehen einhergehen.
Die Gestaltung eines Transformations-prozesses entlang des „U“ bietet dafür einen geeigneten Rahmen. Phasen des Beobachtens, des Zuhörens, des gegenseitigen Einfühlens und Eintauchens in die eigentlichen Intentionen sind genauso gestaltbar wie daraus erwachsende neue Ideen, die übers Prototyping auf den Bühnen des Unternehmens konkretisiert werden können, bevor sie dann der Organisation eine neue Richtung und Ordnung geben. Die im Zuge der New-Work-Bewegung entstandene Toolbox ist ja inzwischen reichhaltig gefüllt, um diese Prozesse methodisch wirksam zu unterstützen. Die Dynamik und Kraft des Übergangs zu nutzen, ist zudem Aufgabe einer systematischen Führungskräfteentwicklung. Eine solche kann sich allerdings weder inhaltlich noch methodisch an überholten Seminardesigns orientieren. Stattdessen gilt es, das Lernen der im Alltag zusammenwirkenden Personen in praxisnahen Bausteinen konsequent auf die für die Zukunft überlebensnotwendige Fähigkeit der Selbstreflexion und dann eben auch auf die Fähigkeit, (sich selbst) im Zwischenraum zu führen, auszurichten.
Und schließlich braucht es eine gelebte Haltung der wertschätzenden Klarheit der Unternehmensverantwortlichen. Gefordert ist von Entscheidern der Mut, im Übergang das Offenwerden neuer Möglichkeiten zuzulassen. Dieser „Zwischenraum“ ist der eigentliche Ort, an dem wirkliche Wandlung beginnt, an dem sich das Gelingen einer Neuausrichtung entscheidet. Sich dorthin zu begeben, ist Wahlfreiheit, ist Verantwortung, ist wahres Leadership.
1 Scharmer, C. Otto (2022), Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen, Heidelberg: Carl-Auer-Verlag
Geduld
„… und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten (….), Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben können. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
(Rainer Maria Rilke in „Briefe an einen jungen Dichter“)