Zentrale Entwicklungen in der aktuellen Arbeits- und Unternehmenswelt – wie VUCA und die Digitalisierung – verändern Jobs, Arbeitsabläufe, Geschäftsmodelle oder gar Branchen teilweise grundlegend. Die Führungskräfte sind angehalten, darauf zu reagieren und erfolgsversprechende Zukunftsperspektiven, Strategien und Rahmenbedingungen, die Haltegriffe in dieser dynamischen Welt bieten, zu erarbeiten. Eine Aufgabe, die fordert und nicht selten auch überfordert. Das gültige Führungsverständnis zu überdenken, kann Entlastung und Perspektiven schaffen – für die Organisation und die Führungskräfte.
Der Ruf nach Flexibilisierung, Agilität und Selbstorganisation ist beinahe omnipräsent und gleichzeitig gibt es in den Unternehmen noch Strukturen, die genau dies hemmen. Zusätzlich wird der interne Druck der Mitarbeitenden nach Selbstbestimmung, Gestaltungs- und Mitspracherecht sowie das Aufbäumen gegen Führung durch Macht und Hierarchie stärker. Sie gehen vermehrt in den Widerstand, stellen seit Jahrzehnten geltende Prämissen in Frage und lassen jahrelang erprobte Management- und Führungsmethoden (zunehmend) scheitern.
Gut nachvollziehbar, dass Führungskräfte an ihre Grenzen stoßen. Die Flucht in Professionalität und Geschäftigkeit ist eine beobachtbare Strategie. Funktioniert die Ablenkung nicht (mehr), gewinnt die Frage nach dem Sinn an Bedeutung: Wozu mache ich das alles eigentlich? Wofür tue ich mir das alles an? Mit dem stärkeren Eintreten der Generationen Y und Z in Führungspositionen, könnte diese Frage noch zunehmend an Brisanz gewinnen. Die geltenden Anforderungen stimmen nicht mit deren Lebenseinstellungen, Werten und Erwartungen an die Arbeitswelt überein – was häufig dazu führt, dass Führungsverantwortung ausgeschlagen wird.
Setzt das Unternehmen auf hierarchiefreie Organisationsmodelle ohne klassische Führungskräfte, wie beispielsweise Holacracy oder Soziokratie, wird dieser Entwicklung eine andere Bedeutung zukommen, als wenn Manager*innen als erfolgskritisch gesehen werden. Unabhängig davon, welcher Weg im Unternehmen eingeschlagen wird, gilt die Reflexion des vorherrschenden Führungsverständnisses als höchst relevant für eine erfolgreiche Zukunft.
Führung in agilen Umwelten
Obwohl die Zukunft der Führung noch großteils ungewiss ist, lassen sich bereits Kernelemente neuer, agiler Führung benennen.
Kulturentwicklung
Nicht-hierarchische Führung im System verankern
Mitarbeitende und Führungskräfte begegnen sich vermehrt auf Augenhöhe, was zu intensiverer Mitbestimmung – auch bei Entscheidungen – führt. Autoritäten und Machtstrukturen werden von Mitarbeiter*innen-Einbezug, Selbstorganisation und Eigenverantwortung abgelöst: Je größer die Autonomie und die selbstorganisierenden Kräfte gelebt werden, desto mehr wird jede*r Mitarbeitende zum/zur Führenden und trägt Verantwortung für sich, das Team und die Organisation. Eine weitreichende, wesentliche Veränderung in der Zusammenarbeit.
Shared Leadership
Führung als sozial-geteilter Prozess mit definierten Rollen
In agilen Kontexten wird Führung immer stärker zu einem sozial-geteilten Prozess. Führung ist nicht mehr vor- rangig an Hierarchien und Positionen gebunden, sondern stärker an Aufgaben und Rollenverantwortungen geknüpft. Damit gibt es vielfach nicht mehr die eine Führungskraft, sondern mehrere Personen, die sich die Führungsverantwortung teilen – Zuständigkeiten können aufgabenbezogen wechseln. Dadurch wird Führung zu einem gemeinsam getragenen Prozess, verteilt auf mehreren Schultern.
Identitäts- & Perspektivenarbeit
Einen gemeinsamen Orientierungsrahmen
Führung in der sich verändernden Arbeitswelt konzentriert sich vermehrt auf die Schaffung eines normativen, kulturellen Rahmens. Gerade für die noch unbekannten Bereiche in dieser anderen Arbeitswelt fehlen meist (noch) gemeinsame Geschichten, Symbole oder Begriffe. Der Identitäts- und Perspektivenarbeit kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Purpose, also der Daseinszweck des Unternehmens, und Werte dienen als Identitätsanker, Visionen als Leitstern und Ziele als konkrete Orientierungspunkte. Gemeinsam schenken sie den Mitarbeitenden Orientierung und Hilfestellungen bei Entscheidungen.
Stärkung der Persönlichkeit
Um langfristig in der VUCA-Welt motiviert und gesund zu bleiben, den Überblick zu wahren, die Komplexität und Flexibilität zu bewältigen und letzten Endes gute Entscheidungen treffen zu können, braucht es gereifte Persönlichkeiten, die sich mutig und openminded den Anforderungen der sich verändernden Arbeitswelt stellen. Austausch und Reflexionsmöglichkeiten für sich selbst und im Kolleg*innenkreis zur gemeinsamen Stärkung und Einordnung sowie Achtsamkeit, Selbstfürsorge und bewusste Auszeiten können dafür ein bedeutender Anker sein.
Führung verändert sich also grundlegend! Dafür braucht es heute schon visionäre Führungspersönlichkeiten mit Leadership-Qualitäten, die dies erkennen und den Paradigmenwechsel in der Führung proaktiv (mit-)gestalten. Es erfordert Mut, Räume aufzumachen, in denen Führungsprämissen in Frage gestellt werden dürfen und in denen mit neuen Ansätzen experimentiert werden darf. Nur so können Führungskräfte und Mitarbeitende gemeinsam ein zur Organisation passendes Führungsverständnis entwickeln, das den Ansprüchen der veränderten Arbeitsbedingungen ebenso gerecht wird wie den persönlichen Bedürfnissen der Menschen.
Für Leadership-Weiterdenker*innen:
Mögliche erste Schritte zu einem neuen Führungsverständnis:
- Führung und das gültige Führungsverständnis in die Reflexion bringen: Was sind heute kritische Führungs- und Entscheidungsfälle aus unserer Praxis und auf Basis welcher gelebten Leadership Principles gehen wir vor? Welche Prinzipien werden auch in Zukunft wichtig und nützlich sein und welche müssen wir neu dazunehmen?
- Stärkung der selbstorganisierenden Kräfte und der Eigenverantwortung: Was müssen wir in unserer Führungsarbeit (neu) lernen? Was „verlernen“?
- Führungsaufgaben und Rollen neu definieren: Wie wollen wir die Führungsrollen und -aufgaben – zum Unternehmen und den neuen Führungsprinzipien passend – weiterentwickeln?
- Stärkung der Persönlichkeit: Wie gelingt es, die Mitarbeitenden gut zu stärken? Wie kommen wir zu einer persönlichen Rollenklarheit und Zukunftsperspektive der einzelnen Rollen-Träger*innen? Wie integrieren wir die Entscheidungen?
- Stärkung der Führungskompetenzen: Welche neuen Führungskompetenzen müssen wir in der Breite stärken und wie gehen wir vor?