Michael Auinger ist Musiker und Unternehmensberater. In dieser Kombination macht er sich Gedanken über Spiel und Spannung bei Change und Innovation.
Ein Spiel hat „[…] das Ziel in sich selber und wird von einem Gefühl der Spannung und Freude begleitet und einem Bewusstsein des Andersseins als das Gewöhnliche“, so Huizinga. Kann Outside-Spielen im Jazz ein Zugang für innovationsgetriebene europäische Unternehmen sein?
Professionelle Musiker:innen spielen miteinander und erzeugen dabei hochkomplexe Interaktionspatterns, die nur durch große Meisterschaft aufrecht-erhalten werden können. Allerdings erfordern unterschiedliche Spieldynamiken auch andere Zugänge zu Führung: Ein Dirigent/eine Dirigentin kann das Miteinander-Spielen anleiten und steuern, unterstützt durch Ranghierarchien (1. Geige, …) und zu befolgende Formen (die Partituren). Er/Sie hat Spielraum bei der Interpretation des vorliegenden Materials. Wie aber kann Spielen gelingen, wenn das Ziel und vor allem die Hierarchien nicht so klar sind?
Spielen bedeutet immer auch, etwas gemeinsam auszuprobieren. Das Ausmaß an Proben bestimmt am Ende die impliziten und expliziten Vereinbarungen zur Interaktion – und damit auch dessen Vorhersagbarkeit. Doch nicht immer ist Vorhersagbarkeit bei radikaleren Innovationen möglich oder gar das Ziel. Aber wie kann Interaktion unter dem Vorzeichen der Unvorhersagbarkeit gelingen?
Ja, auch improvisierende Jazz-Musiker:innen verwenden Formen – Harmoniefolgen und dazu passendes Tonmaterial. Doch wesentlicher Teil dieses Handwerks ist, diese spontan in Interaktion zu biegen, manchmal auch zu sprengen: outside spielen, also sich außerhalb des erwartbaren Materials bewegen und dabei trotzdem Sinn erschaffen. Doch woran erkennt man eine gelungene Interaktion, wenn es keine klaren Regeln und Ziele gibt?
Tension & Release
Sinn entsteht gemeinsam – wenn Spannung zusammen intentional ausgehalten wird und sich dann genauso intentional auflöst. Sich gegenseitig begreifen, zitieren, aufeinander aufbauen. Mit Patterns spielen – also mit kleinen Sinneinheiten, die aufgegriffen, imitiert, modifiziert und kombiniert werden.
Das passt auch zu Innovations- und Change-Prozessen: Abläufe, Produkte, Kommunikationsmuster werden in Elemente zerlegt, rekombiniert, Spannungsfelder entstehen und finden Auflösung in neu vereinbarten Strukturen, die alsbald wieder dekonstruiert werden, um zu neuen Spannungsfeldern zu führen. Das erfordert handwerkliches Geschick und wechselndes Führen und Folgen.
Dazu ein paar Leitgedanken:
Intentionalität statt Ziele
Ziele wirken über klare Vereinbarungen, ein Ziel ist eine Diktion. Intentionen hingegen öffnen einen Diskursraum; die Intention ist eine Einladung zur Co-Creation, zu einem gemeinsamen Spielraum. Das erfordert ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und Zutrauen.
Resonanz statt Abgrenzung
Gute Improvisation lebt von spontaner Interaktion und Überraschung. Das ist nur möglich, wenn alle Akteur:innen zueinander in Resonanz treten. Abgrenzung erzeugt Blockaden beim Hin- und Herpassen von Patterns. Das Ego ist die erste Grenze. Es schafft Abteilungen. Mit Headspace bezeichnen Improvisationsmusiker:innen beispielsweise die Fähigkeit, während des Spielens entstehende Patterns und Strukturelemente gleichzeitig aus der Metaperspektive zu beobachten. Das ermöglicht, sich selbst und andere nebeneinander zu betrachten, sich von (eigenen) Formen zu lösen, Elemente aufzugreifen und auch wieder loszulassen.
Intensität statt Distanz/Formalität
Resonanz passiert nicht nur auf einer kognitiv/logischen Ebene, sondern auch gefühlt und verkörpert. Emotionen der Akteur:innen schaukeln sich wechselseitig hoch und befeuern die Bewegungsdynamik. Zuviel Distanz durch Form lässt die Dynamik erkalten und führt mitunter zur Resignation der Spiel-Teilnehmer:innen.
Spannung statt Beständigkeit
Patterns synchronisieren sich rasch zueinander und können so – bewusst oder unbewusst – sehr komplexe und stabile Handlungsschemata erzeugen: Routinen. Wer aber hat den Mut oder zumindest die Unbedachtheit, das Gefestigte wieder und wieder aus der Bahn zu werfen? Das Timing ist essenziell: Bestehendes muss sich zuerst etablieren, damit Irritationen zu Spannung führen können.
Meisterschaft statt Spezialisierung
Professionelles Improvisieren/Spielen erfordert mehr als Expertise und Spezialisierung in einem Fachbereich. Es erfordert hohe Konnektivität zu anderen und damit den Rückgriff auf einen hochgradig automatisierten Fundus an Patterns aus unterschiedlichsten Bereichen und die Fähigkeit, diese spontan und gemeinsam zu rekombinieren. Durch die Rekombination von Bestehendem entsteht Neues.
Vom Lampenfieber zur Energie
Wie steigt man in dieses Spiel ein, wenn Sicherheitsdenken, eventuell sogar Angst viele Interaktionen in Unternehmen täglich bestimmen?
Das Loslassen klarer Handlungsroutinen und Strukturen ist eine Entscheidung. Menschen entscheiden sich dafür, zueinander in Resonanz zu gehen und Spielpartner:innen zu werden. Dabei braucht es auch im „Publikum“ (insbesondere bei stark strukturhaltenden Teilen der Organisation, z.B. dem Controlling) das Bewusstsein, dass Improvisation und Spannung wertvoll sind.
Der Moment vor dieser Entscheidung kann Angst hervorrufen, Lampenfieber. Ein gelingender Spieleinstieg wandelt Angst in (An-)Spannung, Spannung in intentionsgerichtete Energie und diese Energie in die Entscheidung zu weiterem Handeln bei sich selbst und anderen um. Die dabei spontan entstehenden Wege sind unter Umständen interessanter und aufschlussreicher als das Endergebnis. Die Rolle von Führung? Dafür Raum schaffen und ermutigen. So wie Miles Davis zu Herbie Hancock während dessen Schaffenskrise meinte: „Don’t play the butter notes!“