Persönliche Eigenschaft oder dynamische Kapazität im Lebensfluss?
Seelische Widerstandsfähigkeit – ist sie eine angeborene stabile Eigenschaft oder vielmehr das Ergebnis unser kontinuierlichen biographischen Sozialisierung? Auch wenn die Grundsteine der Resilienz in der Kindheit gelegt werden und eine gewisse persönliche Neigung zur Robustheit oder zur Hochsensibilität gegeben ist, ist es nie zu spät, innere Stärke und Robustheit zu entwickeln.
Kinder und Jugendliche benötigen Bindungspersonen, die zu Selbständigkeit und Initiative ermutigen, und zwischenmenschliche Sicherheit und Vertrauen, um persönliche Stärke entwickeln zu können. Dies ist das Kernergebnis aller Studien zur frühen Resilienzentwicklung.
Persönliche Schutzfaktoren spielen jedoch bereits im Kindes- und Jugendalter eine wichtige Rolle, um herausfordernde Lebenssituationen zu meistern. Dazu gehören ein offenes Wesen, die Fähigkeit, soziale Beziehungen zu knüpfen, hohe Selbstständigkeit, realistische Zukunftsperspektiven, flexibles und wenig impulsives Temperament, hohe Eigenverantwortung und internale Kontrollüberzeugungen, ein positives Selbstwertgefühl und eine höhere Leistungsmotivation.
Studien der Persönlichkeitspsychologie2 an Erwachsenen zur Erforschung der Verbindung der so genannten Big Five (Neurotizismus, Extraversion/Introversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit) mit Resilienz zeigen: die Neigung zu Neurotizismus scheint der größte Risikofaktor für seelische Widerstandsfähigkeit zu sein. Menschen mit einer hohen Ausprägung sind sensibel, lassen sich leichter irritieren, neigen zu Sorgen und innerer Unruhe. Der Faktor Extraversion wirkt hingegen als zentraler Resilienzfaktor – damit fällt es leichter, Beziehungen einzugehen und zu pflegen, Mitmenschen empathisch wahrzunehmen und eigene Gefühle auszudrücken.
In starken Krisen bzw. traumatischen Erlebnissen erleben Menschen zunächst häufig Überforderung und Panik. Jedoch kann sich selbst oder gerade hier Resilienz i.S. von „posttraumatischem Wachstum“ entwickeln und unsere Widerstandsfähigkeit gestärkt werden. Entscheidend dafür ist aber auch hier, dass es Schutzfaktoren aus dem Umfeld und der Persönlichkeit gibt. Es braucht tragfähige, stärkende Beziehungen und auf der persönlichen Ebene die aktive Eigenverantwortung, das Gefühl der Kontrolle und Selbstwirksamkeit und die Sichtweise von „Herausforderungen“ statt Problemen3.
Resilienz stellt somit keine angeborene „ fixe“ Eigenschaft dar, sondern entsteht stets in einem dynamischen Entwicklungsprozess zwischen Individuum und Umwelt.
Grundsätzlich wissen Menschen intuitiv, was ihnen gut tun würde. Weshalb können wir aber dieses Resilienz-Wissen nicht immer abrufen?
Kennen Sie das?
Wir wissen, dass gesunde Selbstfürsorge, Grenzen setzen und Nein sagen die Basis für eine gelungene „Work- Life-Balance“ sind? Warum aber sagen wir häufig Ja, obwohl wir Nein sagen möchten? Wir möchten gerne ruhig und sachlich bleiben? Kommt jedoch ein spezielles Thema auf, spüren wir schon Ärger aufsteigen und können nicht mehr klar denken. Wir wissen, Optimismus wäre ein guter Begleiter für Veränderungsprozesse, dennoch lassen wir uns manchmal von Ängsten und Sorgen scheinbar „überrollen“.
Warum verlieren wir in manchen Situationen in Sekundenschnelle unsere Selbstsicherheit und Souveränität?
Gerade die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung4 und der Traumaforschung5 zeigen, dass Menschen ihr Leben nicht immer rational und bewusst willkürlich steuern und gestalten können. Wann immer unsere emotionalen Bedürfnisse nach Bindung, Anerkennung, Autonomie und Kontrollmöglichkeit, Selbstentfaltung und Selbstwerterhalt und Sicherheit bedroht sind, kommen wir unter Stress, und es springen „alte“ Verhaltensmuster an.
Oft reicht ein kleiner Hinweisreiz (=Trigger oder Prime) aus, und wir „kippen“ in einen Ich-Zustand, in dem scheinbar der Zugang zu wichtigen Ressourcen verstellt ist. Wesentlich ist, dass jedes Verhalten stets in einem Sinn-Kontext zu sehen ist – auch „problematisches“ Stress-Verhalten (z.B. übersteigerter Perfektionismus) kann als Kompetenz gesehen werden, die irgendwann notwendigerweise entwickelt wurde und damals und zum Teil noch heute nützlich war bzw. ist.
Diese Priming-Prozesse wirken schnell und impulsiv, sind aber zum Glück nicht starr. Unser Gehirn ist lebenslang plastisch veränderbar und lernfähig6.
Hohe Achtsamkeit, Reflexionsfähigkeit und Strategien zur Selbststeuerung sind die Basisfaktoren, um aktiv Resilienz weiter zu entwickeln.
So können Sie Ihre persönliche Resilienz weiter entfalten:
- Etablieren Sie einen achtsamen inneren Beobachter: Wie erleben, denken, fühlen und reagieren Sie in positiv stärkenden Situationen und wie in unsicheren Situationen?
- Identifizieren Sie Ihre Frühwarnsignale, z.B. Unruhe- oder Ärger- Empfindungen oder Signale auf der Körperebene, wie z.B. „es wird mir eng im Brustbereich“. Werden Sie sensibler dafür, wann Ihre unwillkürlichen Stressmuster anspringen.
- Lernen Sie Strategien, sich rasch selbst zu regulieren und wieder in einen guten, selbstbestimmten Zustand zu bringen.
- Sorgen Sie für innere und äußere Distanz, achten Sie auf Ihre Atmung, richten Sie Ihre Körperhaltung aus und fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Chancen, Humoriges und manchmal etwas ganz anderes.
- Suchen Sie nach Ausgleich und Ruhephasen.
- Entwickeln Sie eine mentale Schutzschicht und innere Kraftorte für kurze Besinnung.
- Planen Sie tägliche kurze Phasen der Achtsamkeit im Hier und Jetzt ein – so kann sich ein neues Muster der Distanzierungs- und Besonnenheitsfähigkeit entwickeln.
Sie werden Kapitän auf Ihrem Schiff.
Literaturquelle:
1Boyce W.T. Ellis B.J. (2005). Biological sensitivity to context: An evolutionary-developmental theory for the origins and functions of stress reactivity. Development and Psychopathology.
2Werner, E. & Smith, R. (1982). Vulnerable but invincible: A longitudinal study of resilient children and youth. New York: Adams, Bannister and Cox. Laucht et al (2000). Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. In Frühförderung interdisziplinär 10.
Lösel et al.(1999). Von generellen Schutzfaktoren zu differenziellen protektiven Prozessen. In: Opp et al., Was Kinder stärkt: Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München: Ernst Reinhard.
3Waaktar, T. et al. (2010). How resilient are resilience scales? The Big Five scales outperform resilience scales in predicting adjustment in adolescents. Wiley: Scandinavian Journal for Psychology, Chichester, UK, 2009.
4Roth, G. & Strübler, N. (2019). Wie das Gehirn die See- le macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
5Porges, S.W. (2018). Die Polyvagal-Theorie. Lichtenau: Probst-Verlag Levine, P. (2011). Vom Trauma befreien – Wie Sie seelische und körperliche Blockaden lösen. Kempten: Kösel-Verlag.
6Hüther, G. (2013),Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. Berlin: Fischer Verlag.