Plädoyer für einen digitalen Humanismus
Gewaltige Verunsicherung vs. große Hoffnungen auf eine „einfachere“ und „effizientere“ Welt: Die zunehmende Digitalisierung berührt fundamentale Fragen des Menschseins. Was braucht es, um diese beantworten zu können?
Die möglichen Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt auf den Menschen sind widersprüchlich und in ihrer Bedeutung bei weitem noch nicht absehbar. Wollen wir dahingehende Einschätzungen treffen, begeben wir uns auf dünnes Eis.
Aller Unvorhersehbarkeit zum Trotz, sollten wir uns dennoch entscheiden: Lassen wir es zu, dass die Digitalisierung den Menschen in seinen Möglichkeiten standardisiert und „benutzt“? Oder nutzen wir die Digitalisierung als Ermöglicherin für mehr Menschlichkeit im Allgemeinen sowie im Kontext der Berufs- und Arbeitswelt als Türöffnerin hin zu mehr Selbstverantwortung?
Auch wenn in der Agilitätsdiskussion der letzten Jahre inzwischen eine gehörige Portion Ernüchterung eingetreten ist, so haben die Konkretisierungen im betrieblichen Alltag doch gezeigt, dass sich ohne ein ernsthaftes Bemühen um mehr Selbstverantwortung die Dynamik und Komplexität des unternehmerischen Umfeldes kaum bewältigen lässt. In entsprechenden Konzepten wird eine hohe Qualität der Selbstverantwortung vorausgesetzt. Und es wird immer deutlicher, dass Selbstverantwortung selbst einiger Voraussetzungen bedarf! So setzt Verantwortungsübernahme unter anderem ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit und die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Tuns vorherzusehen, voraus. Inwieweit aber kann sich der/die Einzelne in Zeiten der Digitalisierung überhaupt noch als selbstwirksam erleben?
Angesichts der „maschinellen Notwendigkeiten“ treten in Bezug auf die Selbstverantwortung viele Fragen auf: Wieviel Selbstwirksamkeit ist in der digitalen Arbeitswelt noch möglich? Wie gut lässt sich die neue „Kompliziertheit“ durchschauen? Hat der Mensch noch die Möglichkeit zur Reflexion und Kommunikation von Bedürfnissen in Hinblick auf Bindung und Autonomie? Welche Gestaltungsmöglichkeiten bleiben ihm? Oder hat sich der/die Einzelne schon längst dem „digitalen Gott“ unterworfen?
Letztlich werden damit fundamentale Fragen des künftigen Menschseins berührt: Betrachten wir die Digitalisierung als Mittel zum Zweck auf dem Weg hin zu mehr Menschlichkeit? Oder wird sie selbst zum Ziel unter dem Diktat eines bloßen ökonomischen Kalküls? Ebenfalls zu klären bleibt, ob der/die Einzelne sein/ihr spezifisch menschliches Potential im Sinne gelebter Selbstverantwortung und erlebter Selbstwirksamkeit entfalten kann oder ob die Flexibilitätsbereitschaft des Menschen in erster Linie für die digitalen Ziele instrumentalisiert wird.
Instrumentalisierung der Flexibilität
Machen wir uns nichts vor: Noch immer folgt die Forderung und auch Förderung des Prinzips Selbstverantwortung im Managementdenken allzu oft der Logik ökonomischen Kalküls. Wirtschaftlicher Erfolg lebt unter anderem von der Flexibilität des Menschen und seiner beliebigen Verfügbarkeit, wenn es um die Erreichung von Unternehmenszielen geht. Die im Zuge der Agilitätsdiskussion wahrnehmbare Betonung der Flexibilität ist dabei, die Bedeutung von Arbeit selbst zu verändern. So fällt es den einzelnen Mitarbeitenden zunehmend schwerer, eine für sie stimmige Arbeitsidentität zu begründen: Wie können individuelle langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Mindset einer ganz auf die digitale Geschwindigkeit hin ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Organisationen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen und zugleich immer abstrakter und wenig greifbar werden? Gefordert ist die flexible Persönlichkeit, wie Richard Sennet sie beschreibt: Mit der Fähigkeit, sich von der Vergangenheit und dem Konkreten gegebenenfalls sogar abrupt zu lösen und abstrakte Fragmentierungen als das Selbstverständliche zu akzeptieren – mit allen Konsequenzen für die Befindlichkeit des/der Einzelnen.
Eine sich verselbständigende Digitalisierung verstärkt die Angst, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Dieses oft tabuisierte Gefühl umfasst die Besorgnis, in der Arbeit keine eigene Autorität zu erleben, also hin- und hergeworfen zu werden ohne Orientierung und Halt. Verschärft wird die Verunsicherung dadurch, dass viele Mitarbeitende sich immer weniger mit Aufgaben und Menschen identifizieren können, die sie herausfordern und an denen sie wachsen können. Dass dynamische Kurzfristigkeit und die Notwendigkeit, in Netzwerken seine Beziehungen immer wieder neu aushandeln zu müssen, dominieren, schafft eine brüchige Basis für Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung.
Die Einladungen der digitalen Möglichkeiten, das Flexibilitätspotenzial des Menschen im Sinne der Logik der Algorithmen zu nutzen, ihn letztlich in seinem Autonomie- und Selbstwirksamkeitsbedürfnis der digitalen Realität unterzuordnen, sind verlockend und gefährlich zugleich. Es geht um viel. Deshalb gilt es heute und immer wieder, die Entscheidung neu zu treffen – und eben nicht einem utilitaristischen Prinzip zu folgen. Es geht darum, den Möglichkeitsraum so weit offen zu halten, dass sich der einzelne Mensch für ein sinnerfülltes Leben entscheiden und zum Autor/zur Autorin seines/ihres eigenen Lebens entwickeln kann.
Für den Philosophen Julian Nida- Rümelin und die Kulturwissenschafterin Nathalie Weidenfeld transformiert ein digitaler Humanismus den Menschen nicht in eine Maschine und interpretiert Maschinen nicht als Menschen: „Er hält an der Besonderheit des Menschen und seiner Fähigkeiten fest und bedient sich der digitalen Technologien, um diese zu erweitern, nicht um diese zu beschränken.“ Grundlegend für dieses Verständnis ist es, den Menschen nicht auf die Funktion eines Rädchens einer großen Maschinerie zu reduzieren. Vielmehr wird er als zur Selbstwirksamkeit fähiges Wesen gesehen, das sich in permanenter Interaktion mit seinem sozialen Umfeld weiterentwickeln kann. Konsequenterweise besteht der digitale Humanismus darauf, „(…), dass die Digitalisierung zum Wohl der Menschen eingesetzt wird.“ Es ist demnach nichts dagegen einzuwenden, wenn die Digitalisierung für eine effektive und effiziente Steuerung im Unternehmen genutzt wird. Ich mahne jedoch zugleich, hellwach allen Versuchen zu widerstehen, dieses Verhältnis umzudrehen.
Die Frage ist also nicht so sehr, was mit der Digitalisierung möglich ist, sondern was wir wollen. Für die Klarheit des Wollens brauchen wir in der digitalen Arbeitswelt Urteilsvermögen und Urteilskraft, also die ureigenste menschliche Fähigkeit, wertend Stellung zu nehmen. Eine darauf ausgerichtete Persönlichkeitsentwicklung ist heute wichtiger denn je und ihre Bedeutung wird durch die Digitalisierung der Kommunikation und Interaktionen, durch die Produktion und die Transfers von Daten weiter zunehmen.
Die Konsequenzen sind tiefgreifend. So ist z.B. die Wissens- und Kompetenzvermittlung noch intensiver auf die Stärkung der Persönlichkeit und Urteilskraft der Heranwachsenden auszurichten. Anstelle der passiven Aufnahme vorgefertigten Stoffes geht es um die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit, damit der/die Einzelne in der Lage ist, komplexe Arbeitssituationen aktiv zu bewältigen. Die digitalen Möglichkeiten können dazu neue Freiheitsräume schaffen und auch eine gewaltige Veränderungsdynamik im Hinblick auf die kulturellen Verhältnisse auslösen.
Ambivalenz managen
Wie alle Technologien in der Vergangenheit sind auch die digitalen in ihren Wirkungen auf die Arbeitswelt ambivalent. Es ist aber gerade die Fähigkeit, mit diesen Ambivalenzen zu leben, mit den Graubereichen jenseits vom Digitalen 0 und 1 umzugehen, die den Menschen gegenüber der Maschine auszeichnet. Von daher gilt es, das Potenzial des Menschen im Hinblick auf seine Urteils- und Entscheidungskompetenz zu nutzen und ihn in seiner individuellen und sozialen Autonomie zu stärken. Ziel sollte es sein, das Arbeitsleben unter Nutzung der digitalen Möglichkeiten reichhaltiger, selbstbestimmter, effizienter und nachhaltiger zu machen. Denn: Die Maximierung der Menschlichkeit wäre der größte Gewinn!