Resilienzfaktoren in der VUKA-Welt
Hat Resilienz in einer „vukanisierten“ Welt eine besondere Bedeutung und wenn ja, welche? Darüber sprachen wir mit Menschen, die in hoch agilen, dynamischen und komplexen Systemen arbeiten.
Folgende Fragestellungen haben uns dabei geleitet:
- Welche besonderen resilienzbezogenen Herausforderungen stellen sich in agilen hochdynamischen Unternehmen?
- Welche spezifischen kontextbezogenen Chancen und Belastungen für den Menschen und seine seelische Robustheit lassen sich erkennen?
- Welche persönlichen Resilienzfaktoren sind hilfreich, um in der VUKA-Welt wirksam und gesund zu arbeiten und zu leben?
In allen Gesprächen wurde spürbar, dass agiles und selbstorganisiertes Arbeiten in intensiv-dynamischen Umfeldern hohe intrinsische Motivation und Begeisterung erzeugen kann. Gleichzeitig sind Menschen hier in ihren Reifegraden hinsichtlich sozialer Kooperationsfähigkeit, Eigenverantwortung und gesunder Abgrenzung ganz besonders gefordert.
Herausforderungen für die Resilienz in VUKA-Unternehmen
Betrachtet man Start-Ups und Unternehmen mit flachen Hierarchien und hohem Innovationspotenzial, so bekommt man den Eindruck, als ob Menschen hier mit „Leichtigkeit“ und Begeisterung gesund, freudvoll und mit hohem Purpose tätig sind. Gleichzeitig berichten Coaches, Psycholog/innen und Psychotherapeut/innen, dass zunehmend auch in agilen Kontexten Erschöpfungs- bis hin zu Burnout- Symptome auftreten.
Nach den besonderen Herausforderungen in stark dynamischen „vukanisierten“ Unternehmen befragt, berichten unsere Gesprächspartner/ innen über viele Möglichkeiten wie z.B. das hohe Innovationspotenzial, die Möglichkeit, sich hier in Freiräumen zu entfalten und die sehr nahen Beziehungen bis hin zu Freundschaften. Gleichzeitig erleben sie hohe Workloads, ständigen Veränderungsdruck, Schnelligkeit und Komplexität, massive Informationsflut und vor allem ganz spezielle Anforderungen in der Zusammenarbeit in den Teams. Als besonders gefährdet werden jene Personen beschrieben, die ein hohes Pflichtbewusstsein und hohen Perfektionismus aufweisen.
Teamgefüge und soziale Kompetenz scheinen gerade in selbstorganisierten und agilen Arbeitsformen noch viel stärker im Vordergrund zu stehen als in hierarchischen Strukturen. Dies betrifft sowohl Unternehmen, die agile Teamstrukturen von der Gründungsidee her „gewohnt“ sind, als auch Unternehmen die die Zusammenarbeit radikal verändert haben. Ein Gesprächspartner berichtet: „Es gibt zwar mehr Teamgeist, diese Gruppendynamik ist aber auch fordernd.“ Die Umstellung von hierarchischer Meister-Struktur hin zu selbstorganisierten Teams wurde von einer Führungskraft als sehr herausfordernd erlebt: „Die Balance von Geben und Nehmen ist für jene, die alles geben, besonders bedeutsam.“
Gerade Veränderungsprozesse, die sowohl bisherige Positionen als auch Teams und Zusammenarbeitsstrukturen radikal verändern, bringen Menschen in eine Stretchzone. Wir hängen an Gewohntem, an Menschen und Ritualen. Radikaler Change kann eine massive Bedrohung und Verunsicherung auslösen: „Bei uns wurden Gruppen aufgelöst, die Gruppenleiter verloren ihre Positionen – die sind ja auch mit ihrem Herzblut drinnen gesteckt.“
Häufig übersehen wird der notwendige Reifegrad der bisherigen Führungskräfte und Mitarbeiter/innen – man muss aktiver miteinander in Auseinandersetzung gehen, intensiver miteinander reden, sich Feedback geben und neue Prozesse entwickeln, die alles auf den Kopf stellen. Menschen müssen die Reife entwickeln können, bei einem Problem nicht mehr zum Chef zu gehen, sondern unkompliziert die Probleme im Team oder selbst zu lösen.
Und wie in allen gruppendynamischen Prozessen gibt es auch in agilen Teams Konflikte und Spannungen. Gerade in der Phase der selbstorganisierten Formierung neuer Teams können Verletzungen in der Frage passieren, wer dazugehören soll und darf und wer nicht: „Diese Prozesse sind hoch sensibel und können manchmal unter der Gürtellinie treffen.“
Unsere Gesprächspartner/innen kommen aus sieben Unternehmen sehr unterschiedlicher Branchen, Größen und Herkunftsgeschichten. Allen gemeinsam ist permanenter Veränderungs- und Innovationsdruck, stark volatile Umfelder und ein Arbeiten in agilen und selbstgesteuerten Prozessen. Flache Hierarchien bis hin zu agilen Organisationsformen wurden entweder von Beginn an gelebt oder im Rahmen von r-evolutionären Veränderungsprozessen entwickelt:
- Ein Dienstleistungsunternehmen im Bereich Digitale Services, in dem die Mitarbeiter/ innen in selbst organisierten Units mit hoher Agilität arbeiten.
- Ein Industrieunternehmen, das die vertikale auf eine horizontale, hierarchiearme und selbstorganisierte Unternehmensstruktur umgestellt hat.
- Ein Unternehmen im Bereich Motoren- und Fahrzeugindustrie, das ein hochdynamisches und offenes Raum- und Bürokonzept ohne fixe Arbeitsplätze mit hoher Mobilität ins Leben gerufen hat.
- Ein Pharmaunternehmen, das in einer Niederlassung agile Prozesse eingeführt hat.
- Ein stark wachsendes Start-Up-Unternehmen im Bereich E-Mobility, das sich in einem hochdynamischen Produktumfeld bewegt.
- Ein Fahrzeug- und Maschinenbaukonzern mit kontinuierlichen Veränderungsprozessen und Umstellung der Produktionsbereiche von Hierarchie zu Teamarbeit.
- Ein agiles Unternehmen im Bereich Software-Entwicklung.
Unsere Gesprächspartner/innen kamen aus unterschiedlichen Hierarchie- und Funktionsebenen. Nicht alle Unternehmen wollten im Artikel namentlich genannt werden.
Vernetzung, hoch engagierte Geschäftsführer/innen mit einer Rund-um-die-Uhr-Arbeitsweise, die digitale „always on“-Mentalität, die Informationsflut, die erhöhte Unruhe in offenen Büros und der Veränderungs- und Innovationspunch laden zu einer permanent hohen Pace ein. Work-Life- Balance wird vor dem Hintergrund der hohen Freiheitsgrade noch mehr zur persönlichen Verantwortung und Herausforderung.
Als Chancen und Resilienzfaktoren von agilen Kontexten betrachten unsere Gesprächspartner/innen die vielen Freiraume und Möglichkeiten zur Selbstgestaltung, die Freude an Innovationen, den Chancen, etwas zu bewegen, den tragfähigen Beziehungen wie auch der Offenheit und Lockerheit.
Agilität in räumlichen Konzepten rückt zunehmend in den Fokus. Bernhard Reisner, Personalchef von MIBA AG berichtet: Um innovative Lern- und Arbeitsformen zu ermöglichen, wurden in den headquarternahen Bereichen des Unternehmens in der Motoren- und Fahrzeugindustrie die fixen Arbeitsplätze und Büros komplett über Bord geworfen und im 2017 eröffneten MIBA-Forum eine offene Architektur geschaffen. Zu Beginn gab es viel Skepsis – der eigene Schreibtisch vermittelte doch Stabilität und Gewohntes. So musste man sich zunächst von materiellen und ideellen Altlasten trennen, um nun jeden Tag neu einen anderen Arbeitsplatz aufsuchen zu können. „Architektur kann einen Arbeits- und Lebensraum schaffen, wo Menschen sich wohlfühlen, wo sie aufgehen, wo sie Kraft tanken. Heute überwiegt die Begeisterung“, sagt Bernhard Reisner.
Was früher als Incentive gedacht war, wird zum „neuen Normal“: Sich in seinem Unternehmen wohl zu fühlen, ein angenehmes Ambiente vorzufinden, aber auch Arbeitszeitmodelle, die Work-Life Balance zumindest ermöglichen, sollen Mitarbeiter/innen binden. So berichtet Irene Bouchal als HR-Verantwortliche der Fa. Netural darüber, dass neben offenen Räumen mit Wohlfühlcharakter, vor allem „stille Stunden“, Ruhezeiten für ungestörtes Arbeiten, „Auszeit-Möglichkeiten“ für mehrere Monate oder auch das Aussteigen aus All-In-Verträgen eingeführt wurden, mit dem Ziel, Lebensbalance und einen bewussten Umgang mit der Zeit zu ermöglichen.
Als wesentliche Chance und kontextbezogener Resilienzfaktor wird das hohe Innovationspotenzial erkannt. Dieses zu pushen war das erklärte Ziel, weshalb die Organisationsstruktur in einem Industrieunternehmen von klassisch vertikaler Hierarchie auf horizontale Zusammenarbeitsstruktur verändert wurde. „Innovativ ist nicht, die Kundenerwartungen zu erfüllen, sondern ich muss in die Welt schauen und erkennen: Das hat noch keiner gemacht und das machen wir dann. Heute lasse ich mich inspirieren und kann schon loslegen.“ Dazu braucht man hier kein Okay mehr von oben.
Auch der Umgang mit kritischem Feedback hat sich verändert: „Wir reden heute über Rollen. Nicht über Personen. Das nimmt wahnsinnig viel Emotion raus. Man fühlt sich nicht so stark betroffen, wenn jemand sagt, dass sich die Rolle verändern muss.“
Der für viele stärkste kontextbezogene Resilienzfaktor liegt in den engen Beziehungen bis hin zu Freundschaften. Durchgängig wird über viel Respekt und Wertschätzung berichtet. Zusammenhalt im Team hat eine hohe Wertigkeit. Wie auch alle anderen Gesprächspartner/innen berichtet Fr. Roxana Leitner, Personalleiterin von Fa. Kreisel Electric (bekannt für innovative Lösungen im Bereich E-Mobility) darüber, dass intensives Augenmerk auf regelmäßige und häufige Kommunikations- und Feedbackprozesse gelegt wird. Die offenen Kommunikationsräume, die Cafebar intensiv zu nutzen und Treffs außerhalb der Arbeitszeit gehören bei Fa. Kreisel zum Arbeiten und zum Leben.
In der VUKA-Welt gesund arbeiten und leben
Welche persönlichen Resilienzfaktoren benötigen Menschen, um in der Vuka- Welt gesund arbeiten und leben zu können?
Einstimmig betont wird eine hohe Begeisterungsfähigkeit, unbedingter Gestaltungswille und ein „Mitanpacken-Wollen“. Dies erfordert gleichzeitig die Fähigkeit zu einer guten und gesunden Selbstorganisation und Abgrenzung. Die hohe Dynamik und Komplexität, die kräftige Teamdynamik, die täglich neuen Anforderungen und die Vielzahl an Stakeholdern führen zu ständigen „inneren Verhandlungen darüber, was kann ich leisten, was kann ich nicht leisten, was lasse ich liegen, wann sage ich Stop“.
Das besondere Miteinander in agilen und selbstorganisierten Teams erfordert ein hohes Ausmaß an sozialen Fähigkeiten, Achtsamkeit im Umgang miteinander, Wertschätzung zueinander und eine hohe gegenseitige Fürsorgeverantwortung. „Du brauchst die Grundhaltung, Spaß daran zu haben, mit Menschen zu kooperieren.“
Agile Unternehmen wollen innovativ, rasch und wendig sein, die Mitarbeiter/innen benötigen hier Veränderungsbereitschaft und Offenheit für Neues, „die Nase in den Wind strecken und dich nicht in dein Schneckenhaus zurückziehen“. Als Ausgleich braucht man „Tankstellen“, wo man wieder Ruhe findet. Dies können ruhige Arbeitsplätze wie auch Teamrituale sein. Immer wieder betont wird neben der Wendigkeit und Veränderungsbereitschaft das Thema Authentizität im Sinne von sich selbst treu bleiben.
Freiräume erfordern Eigenverantwortung. Es kostet Kraft und Energie, sich permanent an veränderte Situationen anzupassen. „Ownership accountability“ ist herausfordernd – Freiräume zu haben bedeutet noch nicht, diese auch wirklich gestalten und nutzen zu können. So beschreibt eine Führungskraft das Spannungsfeld zwischen Freiraum und Verantwortung: „Hast du eine super Idee, hast du alle Freiräume – aber eventuell wartet da keiner auf dich, und da musst du die Kraft entwickeln, Widerstände zu überwinden und auch mit Enttäuschungen umzugehen.“ Mut, Courage und Selbstüberwindung sind notwendig – „die Organisation gibt mir die Chance, dass ich aus meiner Sicherheitsblase herauskomme. Ich muss dafür aber auch für meine Anliegen einstehen.“
Agilität bedeutet in diesem Sinne auch permanent Veränderung zu üben, Sachen auszuprobieren und gegebenenfalls auch wieder zu lassen. In hoher Transparenz werden Scheitern und Fehler rasch sichtbar. Daraus zu lernen, braucht kritische Selbstreflexion und eine offene Fehler- und Lernkultur. Wenn Kontrolle nachlässt, ist es wichtig, „dass Disziplin in allen Köpfen ist, man Selbstorganisation und Responsibility aufbaut“.
Chancen und Resilienzfaktoren der VUKA-Welt
- Freiräume und viele Möglichkeiten zur Selbstgestaltung
- Innovationskraft
- Häufige Kommunikations- und Feedbackprozesse
- Intensive Beziehungs- und Teamqualität bis hin zu Freundschaften
- Offenheit und Lockerheit
- Attraktive offene Räume, Terrassen, Wellnessräume
- „Stille Stunden“, Ruhezeiten
- Auszeit-Möglichkeiten für mehrere Monate
Herausforderungen und Belastungsfaktoren
- Hohe Workload mit permanent hoher Pace
- Ständiger Veränderungs- und Anpassungsdruck
- Hohe Komplexität
- Massive Informationsflut – „always on“
- Intensive Anforderungen an die Team- und Kooperationsfähigkeit
- Loslassen von Hierarchien, Positionen und gewohnten Strukturen
- Hohe Eigenverantwortung bei den Rollenträger/innen und in den Teams
Persönliche Resilienzfaktoren für die VUKA-Welt
- Hohe Begeisterungsfähigkeit, Gestaltungswille und „anpacken wollen“
- Freiräume konsequent nutzen und eigenverantwortlich dranbleiben
- Mut, Courage und Selbstüberwindung
- Fähigkeit zur gesunden Selbstorganisation und Abgrenzung gegenüber sämtlichen Stakeholdern
- Sehr hohe soziale und kooperative Fähigkeiten und Achtsamkeit zueinander
- Hohe Veränderungsbereitschaft, Wendigkeit und Offenheit
- Kritische Selbstreflexion und Lernfähigkeit
- Fähigkeit zur Ruhe zu kommen und Ausgleichsmechanismen
Die Interviews wurden geführt von:
Dr. Georg-Suso Sutter, Mag. Eva Maria Maurerbaur,
Mag. Barbara Krennmayr, Dr. Maria Ertl, Mag. Anneliese Aschauer-Pischlöger