Hierarchische Strukturen und Managementpraktiken auf dem Prüfstand (Teil 1)
Unbestritten: Etablierte Wirkmechanismen der Steuerung und Führung in Unternehmen greifen immer weniger. Bisher bewährte Verhaltensmuster sind nicht mehr funktional, hierarchische Managementpraktiken stoßen an deutliche Grenzen, Routineprozesse sind immer weniger geeignet, den Markterfordernissen gerecht zu werden. Wird „Selbstverantwortung“ zum Schlüssel der Steuerung unserer Unternehmen in einem schwieriger werdenden Fahrwasser?
Agile Organisation – so heißt das neue Zauberwort, wenn es um die Bewältigung der zunehmenden Dynaxity, also der gleichzeitigen Zunahme von Komplexität und Dynamik geht. Ist „Agilität“ ein ernstzunehmendes Thema der organisationalen Gestaltung oder bleibt sie eine Begrifflichkeit, die mehr verschleiert als dass sie einen Weg der Weiterentwicklung der Organisation beschreibt?
Inzwischen weicht die Euphorie um „Agilität“ der nüchternen Erkenntnis, dass mit ihr ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel verbunden ist – ein Paradigmenwechsel, der u.a. eine radikale Zuwendung zum Prinzip der Selbstverantwortung aller Stakeholder eines Unternehmens erfordert. Es scheint so zu sein, dass die mit Agilität einhergehenden Ideen nicht ohne einen deutlichen Schwenk in der Verantwortungsübernahme durch alle Beteiligten am Unternehmensgeschehen gedacht werden können.
Agile Prinzipien und Vorgehensweisen (z.B. Scrum-Methode1, Design Thinking, Holacracy2) gelten als Wege, um komplexe Anforderungen besser bewältigen zu können. Dabei wird u.a. von der Vorstellung ausgegangen, dass Prozesse sowie individuelle und kollektive Handlungsmuster konsequent an den sich rasch wandelnden Bedürfnissen der Kunden auszurichten sind. Ständig im Kontakt mit unterschiedlichsten Netzwerken aus Experten, Kunden oder Lieferanten ist der Einzelne aufgerufen, in eigener Verantwortung seine Lösungskompetenz zu verbessern und zum Wohle des Unternehmens zu handeln. Immer im Bemühen um die Optimierung der internen Prozesse, soll der Einzelne die ganze Wertschöpfungskette im Blick behalten und zugleich sich selbst für die wechselnden Aufgaben fit machen. Selbstverantwortung ist angesagt!
Fokus Mensch als Dreh- und Angelpunkt einer agilen Organisation
Das ist ganz schön viel, was hier auf die/den einzelne/n MitarbeiterIn zukommt. Es wird eine hohe Qualität der Selbstverantwortung vorausgesetzt, von der noch relativ unklar ist, unter welchen Voraussetzungen sie überhaupt gelebt werden kann, ohne dass der Einzelne der Verlockung der individuellen Gestaltungsillusion zum Opfer fällt.
Was beschreibt der Verantwortungsbegriff eigentlich? Verantwortung umfasst zwei Dimensionen: die Berechtigung, eine bestimmte Aufgabe zu übernehmen und einen bestimmten Handlungsrahmen auszufüllen, sowie die Bereitschaft, die innere „Verpflichtung“, eine zugewiesene Berechtigung als Betroffener anzunehmen. So gesehen kann Verantwortung eigentlich auch nicht delegiert werden; es ist ein Gefühl, das beim Einzelnen entstehen kann. Und letztlich ist es dann auch der Einzelne, der darüber entscheidet, ob er eine Verantwortung übernimmt oder eben nicht. Auf den Punkt gebracht: Jede Verantwortungsübernahme fußt auf Selbstverantwortung.
Da fragt sich der skeptische Leser natürlich rasch: Wozu eigentlich die Bezeichnung Selbstverantwortung? Haben wir es hier nicht wieder einmal mit einem „Code“ zu tun, der, wie so oft im Business-Kontext, immer auch im Sinne symbolischer Führung und Machtausübung als Abgrenzung verwendet wird? So beschreiben Begriffe wie Gesamtverantwortung, Teilverantwortung, übergeordnete und untergeordnete Verantwortung, strategische und operative Verantwortung usw. Ansprüche der Zuständigkeit und der Einflussnahme. Es wird hier demnach mit „Selbstverantwortung“, also über die Begrifflichkeit, auch der Versuch gestartet, der zunehmenden, oft Ohnmacht auslösenden Dynaxity mit der Idee der Agilität zu begegnen und im gleichen Atemzug einen Lösungsweg dahingehend einzuschlagen, dass die Verantwortung des Einzelnen eingeklagt wird.
Nehmen wir diesen Ball auf und diesen Lösungsweg ernst, dann müssen wir ganz nüchtern feststellen: Verantwortungsübernahme setzt ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit und die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Tuns vorherzusehen, voraus. Es ist also von erheblicher Relevanz, inwieweit der Einzelne die relevanten Einflussfaktoren „kontrollieren“ kann.
Gehen wir also der Frage nach, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit das Prinzip „Selbstverantwortung“ mehr ist als ein bloßes Lippenbekenntnis. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass die MitarbeiterInnen grundsätzlich bereit und auch fähig sind, Selbstverantwortung zu leben.
Selbstverantwortung trifft auf hierarchisches Prinzip
Ganz offensichtlich: die Diskussion um Selbstverantwortung trifft im Kern auf das hierarchische Prinzip – ein hohes Maß an Selbstverantwortung als Gegenpart zum hierarchischen Prinzip?
Wenn wir Organisationen als Mittel zur Regelung menschlicher Zusammenarbeit begreifen, dann ist die demotivierende Natur hierarchischer Organisationen und übergreifender Unterstützungsfunktionen eine alltägliche Erfahrung. Viel zu wenige Menschen haben die Möglichkeiten, sich bei der Entscheidungsfindung einzubringen und ihre Talente zu nutzen. Der weitverbreitete Mangel an Motivation ist ein teurer Nebeneffekt der ungleichen Machtverteilung.
Das wirft unter dem Blickwinkel „Agilität“ und der damit geforderten Selbstverantwortung zahlreiche Fragen auf:
- Die Förderung von Selbstverantwortung erfordert Vertrauen an Stelle von Angst. … Ist dann eine hierarchische Pyramide die beste Struktur?
- Regeln, detaillierte Finanzplanungen oder Zielvorgaben geben heute Führungskräften noch allzu oft das Gefühl der Kontrolle. … Sind diese Managementpraktiken angesichts einer ausgeprägten Verantwortungsübernahme durch die MitarbeiterInnen noch funktional?
- Jeder sollte in der Lage sein, wichtige Entscheidungen zu treffen. … Aber führt das nicht ins Chaos?
- Beförderungen, individuelle Bonussysteme, unterschiedliche Gehälter. … Wie verträgt sich das Prinzip Selbstverantwortung mit dem Konkurrenzdenken?
- Unzählige Meetings mit verdeckten Agenden. … Wie müssten Meetings gestaltet sein?
- Unklare unternehmensbezogene Sinnkonzepte. … Wie kann der Einzelne Sinn finden, von dem aus er in Selbstverantwortung handelt?
Wahrscheinlich könnte man diese Liste noch deutlich verlängern … Aber auch so ist schon eines klar: Was im Sinne der Entfaltung des Potenzials, das in der Selbstverantwortung liegt, notwendig wäre, ist nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung der ungleichen Machtverteilung, indem also „machtlosere“ Strukturen und Praktiken zur Anwendung kommen. Das aber hat weitreichende Konsequenzen; das braucht Mut, diese „machtloseren“ Voraussetzungen für die Realität von Organisationen zumindest einmal zu denken.
Das Wagnis „Selbstverantwortung“
Wagen wir doch zusammen einige „radikale“ Gedankenspiele, um die Tragweite einer Stärkung der Selbstverantwortung zu erkennen:3, 4
>> Kein Vorgesetzter – ein Albtraum?
Stattdessen natürliche spontane Hierarchien, die auf Anerkennung, Einfluss und Fertigkeiten basieren. Vorstellbar ist das wohl nur, wenn das Wohlbefinden des Kunden über die Eigeninteressen der Organisation gestellt wird. Zudem werden präzise und effiziente Methoden für gemeinsame Problemlösung und Entscheidungsfindung notwendig sein.
>> Stark reduzierte Unterstützungsfunktionen
Viele Spezial-Aufgaben wie z.B. Planung, interne Kommunikation, Risikomanagement, Umweltschutz, Qualitätskontrolle oder Personalentwicklung wären den Teams zu übertragen. Die starke Reduzierung von vorgegebenen zentralen Regeln und Abläufen könnte ein starkes Gefühl von Freiheit und Verantwortung innerhalb der Organisation erzeugen.
>> Deutlich weniger fruchtlose Besprechungen
Indem die Entscheidungen dort getroffen werden, wo die Auswirkungen am unmittelbarsten spürbar sind, bräuchte es weniger hierarchische Strukturen, um Informationen zu sammeln, zu formulieren, zu filtern und zu übermitteln, sodass sie in der Befehlskette auf und ab weitergeleitet werden können. Stattdessen bräuchte es wohl selbstverantwortete Koordination und eigenständigen Wissensaustausch zwischen den Teams.
>> Radikal vereinfachtes, flexibles Projektmanagement
Projektteams formen sich organisch und lösen sich wieder auf, wenn die Arbeit, im Sinne des Kunden, getan ist. Das funktionale Andocken an Netzwerkpartner und -strukturen folgt den funktionalen Erfordernissen. Die Priorisierung von Projekten erfolgt nicht Top Down. Nicht der Kompetenz einzelner wird vertraut, sondern der kollektiven Intelligenz der Teams.
>> Kein Organigramm, keine Stellenbeschreibungen, keine Stellenbezeichnungen
Die Aufgaben der MitarbeiterInnen entstehen aus einer Vielzahl von Rollen und Verantwortungen, die sie aufgrund ihrer Interessen und Talente in Abstimmung mit den Bedürfnissen der Organisation annehmen. Das impliziert auch den Rollentausch, je nach Arbeitsbelastung und individuellen Stärken, ohne durch die lästigen und oft politisch motivierten Prozesse der Auftragsvergabe, Beförderung und Gehaltsverhandlungen zu gehen.
>> Entscheidungsfindung als individuell verantworteter Beratungsprozess
Entscheidungsfindung durch hierarchische Autorität oder nicht enden wollende Konsensprozesse – beides hat zahlreiche der Selbstverantwortung entgegenlaufende Implikationen. Stattdessen wären Entscheidungen als festgelegte Beratungsprozesse zu etablieren; d.h. jeder kann z.B. Entscheidungsprozesse anstoßen, jeder muss aber um Rat fragen, bevor er eine Entscheidung fällt.
>> Interne Kommunikation für unterschiedliche Informationsbedarfe
Nicht die Wichtigkeit von Menschen wird zum Kommunikationskriterium; vielmehr hat jeder jederzeit Zugang zu den Informationen, die er braucht, um bestmögliche Entscheidungen zu treffen.
>> Konfliktlösung in der Verantwortung der Betroffenen
Wenn Konfliktlösungsprozesse in der Verantwortung der Betroffenen scheitern, könnten Dritte als Mediatoren hinzugezogen werden. Nicht die von oben verordnete machtbasierte Lösung, sondern interessengeleitete Lösungen sind das Ziel.
>> Leistungsmanagement auf Team- und individueller Ebene
Im Fokus steht anstelle formeller Beurteilungsgespräche intrinsische Motivation, vermittelt durch die Beziehung unter den KollegInnen und die Anforderungen des Marktes. Notwendig sind dazu Möglichkeiten, um die eigenen Leistungen einzuschätzen. Intensive eingeübte Feedbackprozesse sind eine Voraussetzung dafür.
>> Vergütung und Anreize
Noch scheint es eine Utopie zu sein, dass MitarbeiterInnen ihr Gehalt selbst festlegen. Eine Kehrtwendung im Nachdenken über die derzeitigen machtorientierten Systeme könnte aber in der Erkenntnis liegen, dass monetäre Anreize in den heutigen komplexen Arbeitsumgebungen meist kontraproduktiv sind und die Leistung eher verringern als erhöhen.
Die Entscheidung: Vertrauen versus Kontrolle
Zugegeben – der eine oder andere dieser Gedanken wird (noch) fremd klingen und uns zu dem Urteil verleiten, dass das wenig mit der Unternehmenswirklichkeit zu tun hat. Wenn wir Selbstverantwortung allerdings ernst nehmen, dann sollten wir uns auf den Weg machen, uns gegenseitig, Führungskräfte und MitarbeiterInnen, in das Vertrauen einzuüben, in das Vertrauen, dass der andere das Richtige tut und die Aufgaben richtig erledigen wird. Nur wo Vertrauen wächst, hat Selbstverantwortung eine Chance.
Zudem: Wir leben in unseren Organisationen mit sozialen Betriebssystemen, die oft gar nicht mehr hinterfragt werden. Wenn wir nun das bisher nur zu einem sehr geringen Teil ausgeschöpfte Potenzial der Selbstverantwortung nutzen wollen, so wird es im Interesse der Zukunftsfähigkeit unserer Unternehmen darum gehen, die organisationalen Praktiken von ihrem Kern her zu verändern: Wir sollten uns ganz schnell dazu bekennen, unsere hierarchischen Konzepte mit den damit verbundenen Managementpraktiken radikal zu hinterfragen. Positiv gewendet: Es gibt noch eine Perspektive der Weiterentwicklung der Unternehmen jenseits der „Effizienz-Philosophie“ der vergangenen zwei Jahrzehnte.