Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Mahatma Gandhi, in: „Momente der Ruhe“
Die Ansätze der Direktheit, Unmittelbarkeit in der Gestaltung von Organisationen gibt es ja bereits länger. Spätestens seit den Forschungserkenntnissen der 1970er Jahre, dass die traditionell-militärisch geprägten Organisationsstrukturen aufgrund von Wertewandel, Globalisierung, etc. an Wirksamkeit verlieren, erleben wir einen Diskurs an Modellen und Haltungen, die letztlich zu einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen führen sollen.
In Anlehnung an Oswald Neubergers Aussage zum Thema Führungsforschung könnte man sagen: Die Landschaft der Organisationsforschung ist unübersichtlich und von vielen Prachtstraßen geprägt, von denen etliche ins Nichts führen. Einige Modelle haben jedoch maßgeblich zu guten Weiterentwicklungen beigetragen.
Kaizen, Lean-Management, Selbststeuerungskonzepte, Entre- und Intrapreneurship, Kanban, Scrum, hierarchiefreie Organisationsmodelle, Netzwerk-Organisation u.v.a.m. sind Denkmodelle, die letztlich Haltungen in den Vordergrund stellen wollen, die bereits in den 1980er Jahren von Sprenger gut auf den Punkt gebracht worden sind.
Die klassische Hierarchie mit ihren Sozialisierungs- und Sanktionsmechanismen, oftmals dargestellt in einer Pyramide, führt letztlich dazu, dass sich alle „nach oben“ orientieren und damit vom eigentlich Wesentlichen, dem Auftrag, den Kunden und ihren Bedürfnissen wegschauen. Es geht viel mehr darum, den Vorgesetzen, Entscheidern und Verfügungsberechtigten des organisationalen „Futtertroges“ zu gefallen und weniger das eigentlich Richtige im Sinne der Mission, des Kernauftrags des Unternehmens zu tun.


Sprengers Ansatz, die Pyramide zu drehen und damit die Kunden und deren Bedürfnisse wirklich in den Fokus aller Mitarbeitenden zu setzen, war eigentlich ein revolutionärer Ansatz. Alle bisherigen Versuche, diesen in den seit Jahrzehnten gültigen hierarchischen Modellen umzusetzen, hatten aber nur eine begrenzte Wirksamkeit. Letztlich hängt es von den Haltungen des Top-Managements ab, was möglich und erwünscht ist. Wechsel in den oberen Etagen führen rasch zu neuen Konzepten, kulturell richtige Ansätze werden zurückgedrängt oder ziehen sich überhaupt in die „Bunker und Schützengräben“ der Partizipation zurück.
In Anlehnung an Sprengers „Mythos Motivation“2 könnte man dann auch vom „Mythos des unternehmerischen Handelns“ in Organisationen sprechen – sticht letztlich nicht doch meistens der Ober den Unter? Und was lernt der Unter daraus?
Agile Organisationen – Der Sturm auf die Bastion der klassischen Organisation?
Der Ansatz der „Agilen Organisationen“ ist auch eine kräftige Ansage. Vielleicht ist die Zeit langsam reif, die Scheinbemühungen der letzten 30 Jahre in eine echte Transformation zu führen. Die Entwicklungen im Umfeld unserer Organisationen (Stichwort Dynaxity als Synonym für wachsende Dynamik und Komplexität) lassen es höchst erforderlich scheinen. Unsere Betriebe und Institutionen sind mit Dynamiken konfrontiert, die andere Konzepte der Unternehmensführung verlangen.
Agilität bedeutet Flinkheit, Gewandtheit und Beweglichkeit zu gewinnen, sich den Erfordernissen und fragilen Rahmenbedingungen aus sich heraus noch rascher anpassen zu können. Sie impliziert aber auch, durch alternative Steuerungsgrundsätze die wachsende Komplexität bewältigen zu können. Dafür die passenden Strukturen zu schaffen, ist eine zentrale Frage für heute geltende Prinzipien der Aufbau- und Ablauforganisation.
Natürlich kann das nicht der individuellen Beliebigkeit der persönlichen Prioritäten, Zugänge und Haltungen, Wissensstände, Expertisen der MitarbeiteiterInnen alleine obliegen. Wir sprechen hier nicht von den normativ-strategischen grundsätzlichen Entscheidungen, den großen Richtungsfestlegungen, wir sprechen auch nicht davon, dass Organisationen als sozio-technische Systeme gemeinsame Modelle und Strukturen benötigen, um den Alltag effektiv und effizient bewältigen zu können und hierbei die Stakeholderinteressen berücksichtigen und für die Organisation übersetzen (Projektebene). Wir sprechen in unserem Verständnis bei agilen Organisationen von der operativen Steuerungsebene, die in der Kompetenz und Verantwortung jener liegen sollte, die genau wissen, was zu tun ist, weil sie am Geschehen dran sind und es tagtäglich, einschließlich der Auswirkungen und Folgen, unmittelbar erleben. Es sind die MitarbeiterInnen, die das Feedback der Kunden und Märkte direkt oder indirekt erhalten und so zum zentralen erfolgswirksamen Faktor werden.

- Wirklich gelebte und ermöglichte Selbststeuerung und Selbstmanagement.
- Die mittlere Ebene managt die Ränder, sorgt im Konzert mit Nahtstellenpartnern für den nötigen Rahmen.
- Nur soviel zentral wie unbedingt nötig und soviel dezentral als irgendwie möglich.
- Dynamische, flexible Kreise/Plattformen bilden, die sich vernetzen/finden/auflösen.
- Tragfähiges Vertrauen durch Kommunikation und weniger durch strukturierende Hierarchien.
- Dynamik, Experimentierfreude und Resultateorientierung als leitende Haltungen.
- Schnellboote statt Schlachtschiffe – kleine, eigenständige Einheiten, die auch Fehler machen dürfen, weil es ohne Fehler gar nicht geht.
- Wirksamkeit anstelle von Prestige und machtvollen Formen, Symboliken und Eitelkeiten.
- Ambiguitätstoleranz entwickeln und damit die Mehrdeutigkeit und Vielfalt mitsamt ihrer Widersprüchlichkeit annehmen, einbinden und managen.
- Den oszillierenden Dynamiken, resultierend aus kontinuierlichen Brüchen und Wandlungen der Umwelten, gerecht werden – sich so aufstellen, dass die Aufnahme- und Verarbeitungskapazität sowie die Umsetzungskompetenz der Organisation maximiert werden kann.
Gut, das alles können wir wahrscheinlich überwiegend unterschreiben. Und wie leben und erleben wir diese Haltungen in der Praxis? Wie gelingt es uns, die damit verbundene Ambiguität zu bewältigen und einzubinden, wenn wir die Ist-Situation – und wie Organisationen heute ticken – betrachten? Welche Strukturen, Modelle würden wir dafür benötigen? Und welche Haltungen und Paradigmenwechsel wären damit verbunden?
Und wären wir dafür überhaupt bereit, das, was uns traditionell vertraut ist, uns auch einen gesellschaftlichen Rahmen, Routinen und letztlich auch Anreize verschafft, aufzugeben?
Zweifellos bedarf eine Neuordnung von organisationalen Zuständigkeiten im oben beschriebenen Sinn klarer Kommunikationsplattformen. Diese müssen insbesondere dazu genutzt werden, ein gemeinsames Verständnis zur Verantwortung jedes Mitarbeitenden im Hinblick auf seine Berechtigung und seine Verpflichtung zu erarbeiten. Darüber hinaus ist der Mut der Führungskräfte gefordert, den MitarbeiterInnen zuzutrauen, dass diese die größeren Handlungsräume im Sinne des Unternehmenszwecks nutzen. Denn letztlich fordern agile Organisationen die härteste Währung, die so schwer zu gewinnen, aber leicht zu verspielen ist: Vertrauen. Führungskräfte auf den unterschiedlichsten Ebenen sollten sich also in ein neues Verständnis von „Kontrolle“ einüben – ein Verständnis, das nicht nach Sicherheit strebt, sondern Gewissheit schafft, dass sich die MitarbeiterInnen der „neuen“ Berechtigung und der dafür erforderlichen Verpflichtung bewusst sind. Wer ein damit einhergehendes Restrisiko nicht tragen will, für den bleibt „agile Organisation“ eine Worthülse mit Potential zur Mogelpackung – wie so viele Managementmoden der letzten Jahre.
Vom Kopf zum Herz und letztlich zur Tat ist es also ein weiter Weg. Um die Handlungsfähigkeit unserer Systeme weiter zu entwickeln und zu stärken und damit auch sicher zu stellen, dass wir die großen Fragen und Aufgaben von morgen bewältigen können, werden wir diesen Weg wohl auch gehen müssen – doch bevor wir die Reise beginnen, sollten wir noch einen kurzen Moment für die folgenden Fragen innehalten:
Für welche Organisationen ist erhöhte Agilität eigentlich wichtig? Und wo ist sie gar kontraproduktiv? Letztlich braucht es doch immer den richtigen „Fit“ zwischen der Organisation und ihrer Umwelt – und daher genaue Analysen dieser Konfigurationen und keine Schnellschüsse.
Henry Mintzberg stellte dazu bereits vor langer Zeit einige spannende und auch heute noch aktuelle Thesen auf3: Dynamische Organisationsumwelten, also Umwelten, in denen die Verbindungen und Anforderungen der einzelnen Subsysteme rasch und unerwartet wechseln, brauchen ebenso organische und hierarchiefreiere Organisationsmodelle, um schnell genug auf Änderungen reagieren zu können. Ebenso bedarf es bei hoch komplexen Umwelten dezentralisierter Entscheidungsstrukturen, da die Komplexität der Aufgabe die Verarbeitungskompetenz streng hierarchischer Formen schlichtweg überfordern würde. Neben steigender Umweltkomplexität und damit auch steigender Komplexität innerhalb der Organisationen, erleben wir aber, bedingt durch den raschen technologischen Fortschritt, oft eine zunehmende Automatisierung der operativen Teile von tratitionell eher hierarchisch strukturierten Unternehmen wie z.B bei Produktionsbetrieben. Diese führt als Konsequenz zu einem Wegfall der Notwendigkeit, einer ebenso bürokratisierten administrativen Organisations- und Kontrollstruktur und ermöglicht damit erst eine Verlagerung der Machtzentren nach „unten“ zu Experten oder – in Sprengers Sinne – eine Umkehr der Pyramide.
So weit so gut – Mintzberg postuliert aber auch eine warnende These: „Fashion favours the structure of the day (and of the culture), sometimes even when inappropriate“3. Das zeigt sich bei bereits älteren Organisationen vor allem darin, dass ihre Strukturen oftmals den allgemein vorherrschenden Trend zur Zeit ihrer Gründung widerspiegeln. Bei vielen wird eine Anpassung an die sich verändernde Umwelt notwendig, bei anderen hingegen nicht oder nicht in dieser Radikalität. Es bedarf daher viel an Feingefühl und genauer Analysen um herauszufiltern, wann und an welche Teile der Organisationsumwelt, sowie in welchem Ausmaß diese Anpassung stattfinden muss, anstatt blindlings „mit dem Strom zu schwimmen“.
Zumindest diese reflexive Übung sollte unbedingt gemacht werden. Die Zeit dafür ist reif.