Seit Jahren ringt eine Organisation darum, tief verankerte, in einem Transformationsprozess hinderliche Verhaltensmuster zu überwinden – mit mäßigem Erfolg. Dann kommt der Virus, und plötzlich gelingen über Nacht Veränderungen, die bisher nur auf dem Papier standen. Die mit der Krisenzeit einhergehenden Verwirrungen rütteln auf. Corona hat die Normalität gelebter kultureller Muster ausgesetzt.
Man reibt sich dann allerdings auch die Augen, wie schnell die früheren Verhaltensmuster wieder greifen, wenn die Relevanz der Kontextbedingungen nicht mehr als persönlich bedeutsam erachtet wird. Ein wenig Change auf Zeit. Alles andere also als eine wirklich gelungene Transformation tradierter Muster. Es wird offensichtlich, dass tiefgreifendere Interventionen auf organisatorischer und persönlicher Ebene erforderlich sind.
Nun ist die Erkenntnis nicht neu, dass das Scheitern von Veränderungsvorhaben viel mit den Haltungen der Schlüsselpersonen zu tun hat, die diese Projekte initiieren bzw. verantworten. Noch immer trifft man auf die Haltung „Verändert euch, ich bleibe der Gleiche.“ Aber selbst da, wo die Einsicht gegeben ist, dass sich der Auftraggeber mitverändern muss, als Voraussetzung dafür, dass sich ein System verändern kann, fällt es den Verantwortlichen oft nicht leicht, das Geschehen mit Distanz zu betrachten, geschweige denn, den eigenen Beitrag zur Stabilisierung des Bestehenden zu sehen.
Coaching unterstützt Leadership-Qualitäten [1]
Um glaubhaft das Notwendige anstoßen und einfordern zu können, ist von Schlüsselkräften gefordert, sich in ihren Leadership-Qualitäten weiterzuentwickeln. Unterstützendes Coaching in Transformationsprozessen wird dann wirksam sein, wenn es gelingt, die Kompetenz zur Selbstreflexion zu stärken. Umgekehrt: Coaching würde deutlich zu kurz greifen, würde es sich auf eine Befähigung auf der unmittelbaren Handlungsebene bzw. auf der Ebene der Veränderung von Strukturen und Prozessen beschränken.
Letztlich sind es Haltungen und Grundüberzeugungen, die Menschen in ihrem Wirken lenken. Was es also braucht, ist die Auseinandersetzung auf der Haltungsebene, d.h. mit Werten, Überzeugungen und Prinzipien. Auf dem Weg dahin gilt es, zunächst die eigene Beobachtung so zu schärfen, dass da Wahrnehmungsfeld nicht durch die eigenen Filter auf das eingeschränkt bleibt, was an eingeübten Mustern und scheinbar naheliegenden Lösungen offen da liegt. Sich gedanklich zu öffnen, erlaubt es erst, das zu sehen, was wirklich da ist. Die Unterstützung dieser Öffnung im Coaching kann noch weitreichender eine Befähigung zum freien Blick auf die eigenen Gefühlslagen und emotionalen Rucksäcke und dann auch auf die der anderen ermöglichen. Dies ist umso wichtiger, als hier oft das eigentliche Scheitern von Projekten angelegt ist.
Coaching kann noch eine Ebene tiefer greifen. Die Schlüsselkräfte zu unterstützen, die eigenen persönlichen „versteckten“ Ambitionen und Intentionen ihres Handelns zu erforschen, setzt letztlich erst die Energie frei, mit klarem Willen das zu entdecken, was die Organisation an Neuem erschaffen und experimentell ausprobieren will. Gerade diese Fähigkeit macht den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern aus.
Ein so ausgerichtetes Coaching leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung hin zum „Selbstverantworteten Leader“. Es unterstützt die Schlüsselpersonen in Transformationsprozessen darin, mit offenem Verstand, einem offenen Herz, schließlich mit freiem, begründeten Willen [2], ihre eigenen Führungs-Quellen ins Handeln zu übersetzen – und zwar mit der Intention, die Zukunft der Organisation aktiv zu gestalten. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass sich in Transformationsprozessen überhaupt Neues zeigen und dann in einen Reifeprozess überführt werden kann. Erst dann kann es gelingen, prototypenhaft das neu Gedachte Schritt für Schritt zur Wirksamkeit zu führen.
Sich dem Sog des gewachsenen Systems zu entziehen,
ist ein kräfteraubendes Unterfangen.
Coaching aktiviert die eigenen Kraftquellen
Wer selbst schon einmal Verantwortung in einem Transformationsprozess übernommen hat, weiß, wie schwer es ist, dem skizzierten Leading-Anspruch zu folgen. Sich dem Sog des gewachsenen Systems zu entziehen, ist ein kräfteraubendes Unterfangen. Coaching kann hier den Entscheidern zu einem inneren und praktischen Zugang zu folgenden drei Hebeln verhelfen:
Die Kraft des unverstellten Blicks
Es gilt, sich dem eigenen blinden Fleck zustellen. Es wäre anmaßend und wenig glaubwürdig, davon auszugehen, dass man dies in Schlüsselpositionen immer auf dem Radar hat. Selbstverständlich können hier eingeübte interne Feedback- und Reflexionsprozesse helfen. Die Erfahrung lehrt aber, dass gerade in oberen Führungsebenen interne Feedbackmechanismen in der Dynamik des Systems hängen bleiben und die internen Kommunikationsprozesse an ihre Grenzen stoßen.
Die Kraft des „offenen Herzens“
Für das Gelingen der Transformation genauso entscheidend ist das Aushalten und Aktivieren des eigenen „mitfühlenden Herzens“. Ein weiterer blinder Fleck: Aufrechterhaltung der eingeübten Muster sozialer Zuschreibungen bzw. Ausblenden des Mitfühlens und der Verbundenheit sowie bloßes Funktionieren. In der Ambivalenz zwischen ökonomisch Gebotenem und menschlich Angemessenen und auf sich allein gestellt tendieren Schlüsselkräfte allzu leicht dazu, in die eine oder andere Richtung zu kippen.
Schließlich scheitern Entscheider oft auch daran, dass sie den letzten Kick zur Umsetzung intensiv erarbeiteter Konzepte nicht schaffen. Gefordert ist
Die Kraft des mutigen Handelns
Ein dritter blinder Fleck: zaudern, verzögern, sich dem Neuen verschließen, das Lebendige unter Kontrolle halten als aussichtsloser Versuch, die eigenen eigentlichen Intentionen zu ignorieren, letztlich sich der Lebendigkeit des Lebens zu entziehen. Oft braucht es nur kleine Impulse, um anstelle innerer Verunsicherung mit langem Atem und Neugier das scheinbar Unmögliche willkommen zu heißen.
Schlüsselpersonen werden bei Missachtung dieser Veränderungshebel selbst zu Hemmnissen der Transformation. Angesichts dessen, dass eine so komplexe Herausforderung wie ein Transformationsprozess nicht wie ein kompliziertes Problem mechanistisch zu bewältigen ist, wäre es fahrlässig, nicht Hilfe zur Selbsthilfe in Anspruch zu nehmen.
Noch präziser: Transformation einer Organisation impliziert als Voraussetzung für ihr Gelingen immer auch die Überwindung einer zweifachen Identitätskrise – die der Organisation und die des Einzelnen. Von daher ist es nicht übertrieben und schon gar kein Zeichen von Schwäche, mir als Schlüsselperson die Frage zu stellen, wie es im Zuge der Veränderung um die eigene Identität bestellt ist. Wer kann ich noch sein in dieser Zeit und unter den Umständen der Transformation?! Wer will ich sein, wenn sich das Neue seinen Raum verschaffen will?! Die Aufforderung ist eine existenzielle: sich neu zu erfinden bzw. zu definieren, damit das gesamte System die Chance der Erneuerung hat.
Coaching konkret: Die Kraft des Zuhörens
Als Beispiel für den skizzierten Coachinganspruch soll auf eine der wichtigsten und zugleich am meisten unterschätzten Fähigkeiten in Führungs- bzw. Transformationsprozessen hingewiesen werden: die Fähigkeit des Zuhörens. Es geht darum, den unreflektierten Download vergangener Muster zu überwinden und ein Zuhören (und dann auch ein Sprechen) auf drei Ebenen einzuüben:
- „Faktisches Zuhören“: ohne Vorurteil, in der Haltung des Lernenden mit offenen Augen und Neugier das sehen, was ist, und auf widerlegende Informationen achten; als „Nicht-Wissender“ bereit sein für das Überraschende, flexibel genug, alternative Beobachtungsperspektiven aufzunehmen
- „Empathisches Zuhören“: in emotionaler Verbundenheit mit sich selbst und mit anderen mit Mitgefühl das, was ist, mit den Augen anderer spüren und sehen; selbst berührbar und berührt, verletzlich sein, dabei auch schwierige Gedanken und Gefühle aushalten und zugleich handlungsfähig bleiben
- „Schöpferisches Zuhören“: in Verbundenheit mit dem Ganzen, mit klarem Willen und Mut auf das hören, was sich an künftigem Potenzial zeigen will; sich im Zuhören dem co-kreativen Prozess des gemeinsamen Erforschens des Unmöglichen hingeben
Ein so ausgerichtetes Coaching mit Fokus auf ein „Selbstverantwortetes Leadership“ wirkt als Katalysator für tiefgreifende Veränderung. Manchmal reicht schon die Unterstützung, in den „Hubschrauber einzusteigen, abzuheben und einige wenige Meter über dem Transformationsfeld zu schweben“. Die Fähigkeit, aus dieser Perspektive die Aufmerksamkeit fokussiert zu halten, prägt die Art, wie sich Wirklichkeit um mich herum entfaltet.
Damit Transformation nachhaltig gelingen kann: Das dargelegte „Versprechen“ unterstützenden Coachings ist kein Geringes. Es geht um die Kraft des Anliegens, der Ermutigung, der Intention, letztlich darum, „den inneren Ort, von dem aus wir handeln, zu verändern“ [3] …! Und dies immer im Zeichen der Demut, dass die oberste Autorität eines Coachings der Coachee selbst ist.
1 vgl. dazu auch im INOVATOR Nr. 33, Herbst 2018 Selbstverantwortetes Leadership – Die Quelle von Leadership im Zeichen der Agilität
2 Open Mind – Open Heart – Open Will“ – ein Ordnungsprinzip aus der Theorie U , vgl. C. Otto Scharmer, Essentials der Theorie U – Grundprinzipien und Anwendungen, Heidelberg 2019
3 Ebenda, S. 57