Mit Scrum, Holacracy & Co in die digi-cale Zukunft
Die Menschheit musste sich in ihrer Geschichte immer wieder neu definieren – nur so konnten das Überleben und auch die Weiterentwicklung gelingen. Dabei waren es gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Entwicklungen, die eine Zeit reiften und schließlich zu Umbrüchen führten. Umbrüche, die auch mit neuen Paradigmen der Organisation des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens einhergegangen sind.
Die damit verbundenen „höheren“ Bewusstseinsstufen lösten nachhaltige, fundamentale strukturelle Veränderungen aus (Albert Wenger, 2016, S. 22 ff):
- Von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur sesshaften Agrarkultur – damit vom knappen Gut „Nahrung“ zum knappen Gut „Boden“.
- Von der feudalen, aristokratischen Agrargesellschaft zum Industriezeitalter – damit wurden „Bodenschätze, Produktionsmittel und Kapital“ zum Engpassfaktor.
- Von der kapitalgetriebenen Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft? – das knappe Gut wird die „Aufmerksamkeit“ (sich auf die richtigen Themen, Fragen fokussieren).
Natürlich ist diese Aufzählung sehr verdichtet und würdigt viele andere, revolutionäre und evolutionäre Momente nicht. Vom Nomaden zur sesshaften Dorfgemeinschaft, die ersten wirklich großen Städte, die Palastkulturen der Bronzezeit, erste Imperien mit ihrer Bürokratie, erste Weltreiche, die industrielle und in weiterer Folge soziale und politische Revolution, die großen logistischen Innovationen, die Kommunikations- und IT-Revolution … Epochen, in denen eine Vielzahl von Transformationen erfolgte, ehe sich etwas fundamental Anderes, Neues mit den ihm innewohnenden Gesetzen durchsetzten konnte. Oft geschahen wichtige Schritte aber in einer ähnlichen Bewusstseinsstufe.
Ein neues Paradigma verändert unsere Organisationen?
In unserer aktuellen Diskussion stellt sich die Frage, ob wir uns nicht doch in einer besonderen Phase befinden, in einem Übergang in ein neues Paradigma, das zu fundamentalen Änderungen unseres Daseins und Zusammenlebens führt, führen muss (Frederic Laloux, 2014, S. 1 ff).
Die heute gültigen Prämissen der Gestaltung von Organisationen sind ein Resultat der Renaissance und Aufklärung, der industriellen und sozialen Revolutionen, der Demokratisierung unserer westlichen Gesellschaften. Es ist aber auch ein Produkt alter Erkenntnisse aus der Militär- und Kriegsführung. Nicht umsonst spricht man von Strategie, von Taktik, von Operationen, von General Management … Begrifflichkeiten, deren Ursprung in der antagonistischen, konfliktären Welt von Herrschaftssystemen zu suchen ist. So sind dann auch unsere Wirtschaftssysteme von Wettbewerb, Kampf, Verdrängung, Zugewinnen, Verteidigung geprägt, tragen so die ursprünglichen Intentionen und Denkhaltungen zumindest teilweise mit diesen Codes in die betrieblichen Realitäten und machen sie zu einem Bestandteil der Macht- und Entscheidungskulturen.
In der Auseinandersetzung rund um agile Organisationen ist vor allem die Form, wie wir uns um Entscheidungen und deren Umsetzung organisieren, im Fokus. Stehen wir als Gesellschaft mit unseren Organisationen wirklich vor einer radikalen Entwicklung? Denn genau das wäre es: keine inkrementelle, evolutionäre Veränderung, sondern ein dramatischer Bruch mit sehr lange geltenden hierarchischen Prinzipien. Dabei wäre vor allem die dahinter liegende Grundhaltung massiv zu hinterfragen – eine Abkehr von heute bestimmenden Werten und Normen der Konkurrenz und des Misstrauens wäre vorauszusetzen.
Seit dem Wertewandel nach den beiden Weltkriegen haben sich Elemente einer partizipativen, selbstverantwortlichen und selbststeuernden Kultur in die klar hierarchischen Systeme „eingenistet“. Aber das ist letztlich mehr vom Selben, natürlich etwas anders geprägt und doch kongruent mit dem herrschenden Prinzip.
Was wäre der Treiber für eine derartige fundamentale Veränderung? Vieles wird dafür ins Spiel gebracht: Globalisierung, Wertewandel, technologischer Fortschritt, Digitalisierung uam. Jedes Phänomen ist für sich alleine ein gewaltiger Stimulator – aber muss sich deswegen das geltende Paradigma wirklich ändern? Sind das letztlich nicht Erscheinungen, die in der Entwicklung der Menschheit immer wieder auftraten?
Wenn man das Rüttelsieb der Geschichte ansetzt, bleibt vielleicht nur ein Phänomen „hängen“, das dieses fundamental Andere, Neue sein könnte: die kompromisslose weil alles dominierende und durchdringende Digitalisierung aller Lebensbereiche – regional und global. Diese Dynamik verändert Prozesse, Haltungen und Zugänge, schafft Räume und Transparenzpotenziale in einem neuen Ausmaß.
Die „Wiki-sierung“ der Gesellschaft
- verkürzt dramatisch die Halbwertszeit von Informationen und Wissen
- verursacht und dynamisiert die Volatilität in den Märkten und Fragilität in den Systemen
- verunmöglicht bzw. schwächt traditionell-konservative Planungsprozesse
- ist Turbo für die Dienstleistungsgesellschaft und für die „Expertengesellschaft 4.0“
Aufmerksamkeit wird immer mehr zum knappen, dominierenden Gut der Informations- und Wissensgesellschaft.
Der Engpassfaktor ist damit die Aufmerksamkeit, die richtigen Themen in dieser Dynamik und Komplexität zu (er)kennen. Damit wird der Expertenmacht eine noch zentralere Stellung in unseren Organisationen verschafft und die formalen, hierarchischen Strukturen verlieren an Effektivität. Die Revolution passiert dann letztlich tatsächlich in unseren sozialen und wirtschaftlichen Systemen. Je mehr die Generationen, die als Digital Natives mit diesen Technologien aufgewachsen sind, in Entscheidungsrollen kommen, umso mehr wird sich der Konflikt zuspitzen.
Die externe Nährung und Stärkung erfolgt durch die dynamisierten, zunehmend komplexen Märkte. Diese hohe Komplexität kann nur durch komplexitätsverarbeitende Systeme erfolgen – und das sind nicht die trivialen, sondern die extrem wissens- und dienstleistungsgesteuerten.
Diese Systeme sind geleitet von
- Mündigkeit
- Unabhängigkeit
- Selbstbestimmtheit
Agile Organisationen haben ihre eigenen Gesetze
Welche Dimensionen sind nun ausschlaggebend dafür, ob eine Organisation „holacracy-mäßig“ erfolgreicher sein kann als im herkömmlichen Sinn?
- Ein dynamisches Umfeld, das kybernetisch-iterative Fähigkeiten für eine optimale Leistungserbringung erfordert
- Eine hohe Experten-Dynamik als zentraler erfolgswirksamer Faktor
- Eine starke Überlappung der Planungs- und Realisierungsstrecke
- Entsprechende menschliche und zwischenmenschliche Kompetenzen der Mitarbeitenden und Führungskräfte, damit die erforderlichen agilen Haltungen und Prozesse gelebt werden können
Mit diesem Maßstab verwundert es wenig, dass es zwar vielfältige Ansätze in Betrieben gibt, durchaus ernsthaft darüber in den Chef-Etagen philosophiert wird, die radikale, kompromisslose Realisierung aber noch in der Minderzahl ist und in vielen Branchen und Regionen auch einstweilen bleiben wird.
Stellt man die noch spärlichen echten Beispiele für agile Organisationen auf den Prüfstand, dann sind es genau diese Prinzipien, die maßgebliche Treiber sind.
Wenn Chris Rufer, CEO von Morningstar, sagt „Bei uns ist jeder Manager. Jeder ist Manager seiner eigenen Aufgabe.“ (Gary Hamel, 2012, S. 22 ff), dann kommt darin der Kern agiler Organisationen zum Ausdruck – alle Elemente des Planens, Entscheidens und Umsetzens und der Kontrolle werden von den Mitarbeitern wahrgenommen, die am Point of Operation sind:
- eine Vielzahl natürlicher, dynamischer, informeller Hierarchien ist anstelle einer formalen wirksam
- die Grundlage der Hierarchien sind nicht Positionen, sondern Beiträge (Können, Hilfsbereitschaft und Wertschöpfung)
John P. Kotter (2012, S.22 ff) beschreibt einen Lösungsansatz im dualen Betriebssystem: neben der traditionellen Hierarchie und den herkömmlichen Managementprozessen, die die täglichen Anforderungen steuern, gibt es ein zweites Betriebssystem in Form von agilen, netzwerkartigen Strukturen für potenzielle Gefahren und das Nutzen von dynamischen Optionen.
Teilweise verschwinden auch die Grenzen zwischen den funktionalen Bereichen und den Primär- und Sekundärprozessen. Smarte Produkte brechen die klassischen Strukturen auf, sie erfordern eine dauerhafte bereichsübergreifende Koordination (Michael Porter und James Heppelmann, 2015, S. 52 ff).
Die große Kunst in den nächsten Jahren wird für viele Unternehmen sein, überwiegend konventionelle Produkte herzustellen und zu betreuen und zugleich smarte, intelligente vernetzte Produkte und Dienstleistungen erfolgreich zu entwickeln und etablieren. Diese old & young-Organisationsdynamik wird eine zunehmende Herausforderung für die Kultur und die Steuerung.
Abschließender Ausblick in die „Neue Welt“
Unsere Organisationen werden sich im Wesentlichen verändern (müssen), wir wissen aber noch nicht, in welche Richtung und vor allem, welche Formen und Haltungen sich letztlich durchsetzen werden.
Es unreflektiert laufen zu lassen oder am Alten festzuhalten, wären aber die falschen Strategien. Wir müssen dieses Experimentierfeld nutzen – reflexiv, verantwortungsbewusst und neugierig auf das, was uns die Organisationswelt von morgen bietet. Nur dann können wir auch in dieser Unsicherheit gestalten und bewältigen.
Wie wird die Organisationswelt von morgen aussehen? Nach einer 20-jährigen Wertediskussion und der Irritation aufgrund der Finanzkrise könnte nun auf den entstandenen Haltungen und dem neuen kollektiven Bewusstsein eine andere Form der Steuerung von Organisationen aufbauen. Die Bilder dazu sind erst im Entstehen und noch in einer frühen Phase der Formung. Eine chancen- und gefahrenreiche Phase des Experimentierens wird uns in den nächsten Jahren begleiten:
- Wie wird dieser Übergang am besten zu gestalten sein? Wie kann der erforderliche konventionelle Weg mit den neuen, smarten Ansprüchen in Einklang gebracht werden?
- Wie können die Träger der konventionellen Methode mit den agilen, neuen Treibern in gute komplementäre Beziehungen gebracht werden?
- Was wird das mit unseren Organisationen tun (müssen), wenn die Grenzen zwischen den Bereichen aufbrechen, verschwinden, wenn sich alte, lang bewährte Rollenmuster auflösen?
- Was macht das mit den Menschen, den Führungskräften und Mitarbeitenden?
- Wie passiert dann Führung? Was bedeutet dann Unternehmertum?
- Mit welchen Methoden, Prozessen arbeiten wir und wie kommen wir zum Erfolg?
- Wie können wir – Eigentümer, Führungskräfte, Mitarbeiter sowie Kunden und Lieferanten – dieses laufende Experimentieren, Innovieren, Ändern, Transformieren gut verstehen, aushalten? Wie können wir dabei produktiv, zufrieden und gesund bleiben?
Spannende Fragen, die uns noch lange beschäftigen werden. Auch uns, als Beratungs-Gemeinschaft.
Wir werden in unserem INOVATOR immer wieder darüber berichten.