Liebe zur Weisheit als Beratung, ohne leere Buzzwords
Seit der ersten institutionalisierten Praxisgründung 1981 grenzt sich die philosophische Beratung bewusst zu Psychotherapie und Coaching bzw. Beratung ab. Was philosophische Beratung ist und was sie kann.
Wenn es um ernst gemeinte substantielle Neuorientierung geht („Wer wollen wir eigentlich wirklich sein?!“), dann kann es ganz schön knifflig werden. Wir haben daher einen Blick über den Zaun gewagt, um uns mit einer „alten Bekannten“ auszutauschen, die in letzter Zeit wieder auffällig oft auch außerhalb des „Elfenbeinturms“ von sich reden macht: der Philosophischen Praxis oder Philosophischen Beratung.
Sie zählt wegen ihrer dialogischen Form zu den ältesten Arten des Philosophierens. Doch welche Methoden werden hier angewendet? Was kann die aktive Stimme von praktischen Philosoph*innen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben heute noch leisten?
Nach traditionell eurozentristischer Manier beginnt „die Philosophie“ mit Platon und den Vorsokratiker*innen. Platons Hauptfigur, Sokrates, gilt als älteste Vorbildfigur der Philosophischen Praxis (nach Harlich Stavemann übrigens auch der modernen Psychotherapie und Beratung). Die sokratische Methode, Maieutik, wird als
“Hebammenkunst” bezeichnet und bildet den Grundstein der philosophischen Praxis. Hier wird die/der Gesprächspartner*in mittels Fragen im Dialog unterstützt, die eigenen Gedanken hervorzubringen und zu ordnen. Durch Maieutik können Denkmuster und -figuren nach einer argumentativen Prüfung be- bzw. entkräftet und weiter bzw. neu gedacht werden. Ziel philosophischer Gespräche ist, zum Weiterdenken anzuregen. Je mehr offene Fragen man aus dem Gespräch mitnimmt, umso besser. „Das philosophische Gespräch ist keine Lebensberatung, keine Psychotherapie, keine Mediation und keine Gruppendynamik – doch all diese Kulturtechniken haben von der Philosophie gelernt und umgekehrt diese befruchtet.“, so Alfred Pfabigan.
Philo-sophia bedeutet übersetzt „Liebe zur Weisheit“ und möchte diese im Gegenüber erwecken. Der Erkenntnisanspruch Weisheit geht über rein inhaltlich-kognitives Wissen hinaus und verlangt komplexes, prozessuales so-wie intuitives/körperliches Erfassen – und hat damit einen Transformationsanspruch. Es geht um Bildung im engsten Sinn: „Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“, so Peter Bieri.
Wozu Philosoph*innen?
Organisationsentwicklung und Philosophische Praxis sind zwei Weisen im Umgang mit einem Phänomen: dem Menschen in der Welt. Während es in der Organisationsentwicklung mehr um die Entwicklung von Individuen, Teams, Institutionen und Ressourcen hin zu einem konkreten Ziel unter bestimmten Rahmenbedingungen geht, verlangt Philosophieren stets 1. das radikale Hinterfragen von als selbstverständlich wahrgenommener Vorbedingungen, Ideale und Deutungsschemata, und 2. die ganzheitliche/relationale Einbettung der neu gewonnenen Erkenntnis in eigenes (Er)Leben, Umwelt/Natur, Umfeld/Gesellschaft – den alt-griechischen „Kosmos”. Philosophische Praxis ist daher eine Denkschulung, die über die Grenzen des Persönlichen/der aktuellen Systemdefinition und den damit einhergehenden gewohnten Systemlogiken hinausgeht.
Während in einem Beratungskontext konkrete Herausforderungs- und Entwicklungsfelder der Klient*innen im Fokus liegen – also ein Mangel mit entsprechender „Therapie” definiert wird – empfängt die philosophische Praxis Gäste oder Besucher*innen, die Rat auf der Suche nach z.B. Glück, Sinngebung und Integrität in einem umfassenderen Kontext wünschen. Philosophische Praxis adressiert das gesteigerte Bedürfnis nach Sinndeutung (und Bedeutung), da viele Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkeiten in der Komplexität der modernen Gesellschaft brechen und Orientierungslosigkeit verursachen.
„Moment!“, wirft die Prozessberaterin ein. „Damit beschäftigt sich ja auch die Organisationsentwicklung seit einiger Zeit umfassend und variantenreich – Stichwort organisationaler Purpose?“
Philosophin: „Aber impliziert die Frage nach organisationalem Sinn/Purpose und Werten selbst nicht bereits die Erfahrung von Sinnlosigkeit und Wert(e)losigkeit? Kann man diesen Sinn überhaupt finden? Muss er nicht immer wieder aufs Neue generiert werden? Und dabei mit den Gegebenheiten der Welt in Zusammenhang gedacht werden? Wer oder was treibt die aktuelle Purpose-Suche eigentlich an und wozu? Was macht den organisationalen Un-Sinn aus?“
Nehmen wir als Beispiel ein Begleitungs-Szenario durch eine Psychotherapeutin, einen Coach/Berater oder Philosophen. Drei unterschiedliche Reaktionen auf die Aussage: „Ich weiß nicht, ob ich mit der Konzern-Strategie noch glücklich bin.“
1. Therapeut*in: „In welchen Situationen haben Sie dieses Gefühl?“
2. Berater*in/Coach: „Haben Sie Zweifel, ob damit das Zukunftsbild noch erreicht werden kann? Was müsste anders sein?“
3. Philosoph*in: „Was heißt, mit einer Strategie glücklich zu sein?“
In der Reaktion der/des Philosophin/en geht es darum, Distanz zu gewohnten Referenzrahmen und Begriffen zu gewinnen, um anschließend gemeinsam im Gespräch neue Sinngebung zu erschaffen. Aphorismen und Textstellen unterschiedlicher Denkschulen können dabei als Stütze hilfreich sein, dürfen aber niemals zu reinen Floskeln verkommen. Denn wer auf dieser fundamentalen Ebene reflektieren will, muss Begriffe präzise formulieren und mit Lebendigkeit, Bedeutung und Erfahrung füllen. Von dieser Haltung kann auch die Organisationsentwicklung etwas mitnehmen: 1. den genauen Gebrauch von Begriffen als Basis für eine gemeinsame Sprachfähigkeit. 2. das Erlebbarmachen der Begriffe durch eine konkrete Praxis.
Wann Philosoph*innen?
Umso drastischer die Umbrüche in unserer Gesellschaft, desto fundamentaler die notwendige Reflexionstiefe. Die aktuellen Entwicklungen in KI, Klima und Geopolitik verlangen eben auch diese philosophische Reflexionsebene zu organisationalen und wirtschaftlichen Fragen und Herausforderungen. Eine Neu-Verortung, die allein mit Digitalisierung/Technologie, Neuroscience und bestehenden wirtschaftswissenschaftlichen Modellen nicht zu lösen ist.
Es ist Zeit: für einen Diskurs der Disziplinen, der nicht von einseitigen Trends und leeren Buzzwords dominiert wird; der unsere notwendige Neu-Verortung systemübergreifend durch gelebte Praxis mitgestaltet und begreifbar macht – ein Diskurs, den Sokrates sicherlich mit Leidenschaft geführt hätte.
Vera Borrmann ist Philosophin am Human Technology Interaction Lab des UMC Freiburg. Sie publiziert zu phänomenologischen Methoden und Embodiment-Theorien.