Oder warum uns (alte) Dogmen nicht mehr weiterhelfen
Man sagt: Wir leben in Zeiten hoher Volatilität und Unsicherheit. Zeiten, die wandelbare Organisationen erfordern. Doch dabei werden die Begriffe Wandel und Anpassung im Diskurs manchmal vermischt: Geht es wirklich nur um die Anpassung an Umweltbedingungen, oder eben auch darum, diese Organisationsumwelten mitzugestalten? Denn für das, was auf uns zukommt, werden wir beides brauchen: sowohl Stabilität durch Strukturen als auch tiefgreifende Veränderung durch Gestaltungsfreiräume.
Um das Kunststück des Stabilisierens und Gestaltens zu bewerkstelligen, hilft uns eine Vielzahl an unterschiedlichen Organisationstheorien und Modellen, denen wir als Entwickler*innen ein großes Repertoire zur Arbeit mit Organisationen verdanken: So eignet sich die Systemtheorie mit ihrer radikal konstruktivistischen Perspektive hervorragend dazu, bestehende Zustände zu beobachten und Interventionen zu planen. Die Human-Relations-Bewegung und Person-zentrierte Ansätze lenken unsere Blicke auf die Landkarte zwischenmenschlicher und innerpsychischer Dynamiken. Mechanistische Ablaufmodelle mit ihren Hierarchien bieten Rahmen und Orientierung durch ganz klare Strukturen. Aktuell heiß diskutierte Konzepte, wie Liberating Structures, Holacracy und Agilität, versorgen uns mit naturalistischen Metaphern und Tools – die Organisation als Körper mit einer Vielzahl autonom organisierter und zueinander vernetzter „Zellen“.
Nun ist dieser reiche Fundus an Herangehensweisen andererseits aber auch eine Quelle für einander scheinbar unvereinbar gegenüberstehende Positionen und Zugänge. Was also ist „die richtige“ organisationale Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit? Und ist das überhaupt die richtige Frage?
Denn um Orientierung und Gestaltungsfähigkeit auf einem sich so schnell verändernden Terrain wie unserer globalisierten Welt zu gewinnen, können zusätzlich zu diesen etablierten Denktraditionen ganz andere Arten von Kartographie-Methoden nützlich sein, die Raum für ebendiese Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Methoden zulassen und dabei die immer umfassendere Überlappung von sozialen und technologischen Akteuren (z.B. Artificial Intelligence) thematisieren.
Den philosophischen Rahmen dafür liefert der Poststrukturalismus1, den methodischen die Actor-Network Theory (ANT)2.
Wer bewegt was?
In Organisationen bestehen seit jeher konträre Intentionen und Ansätze zeitgleich. So sind beispielsweise Innovationsund Administrationsbereiche üblicherweise unterschiedlich organisiert, die in ihnen tätigen Akteure verfolgen unterschiedliche Interessen und sind unterschiedlichen Stakeholder*innen mit jeweils unterschiedlichen Intentionen Rechenschaft schuldig. Gerade aber das aus der Unterschiedlichkeit der Akteure entspringende Spannungsfeld und die Arbeit mit diesem ist aus unserer Sicht ein wesentliches bewegendes Element.
In komplexen Umwelten gilt die Kombination von Selbststeuerung und Sinn-Orientierung als Königsdisziplin. Davon sind auch wir überzeugt. Seit einiger Zeit liest man in diesem Zusammenhang nun überall von der Agilisierung, die scheinbar zum Patentrezept für organisationale Herausforderungen verkommen ist: Sie fordert eine Flexibilisierung von Menschen und Strukturen – doch zu welchem Zweck erfolgt diese Flexibilisierung? Und auf welchen Reflexions-Reifegrad trifft der gewählte Organisationsansatz?
Wenn damit in letzter Konsequenz die Ausrichtung aller oder zumindest möglichst vieler Teilbereiche einer Organisation an den (volatilen) Kundenbedürfnissen gemeint ist, klingt das zuerst gut. Es könnte aber mittel bis langfristig genau zum Gegenteil von dem führen, was mit „agil” im eigentlichen Wortsinn gemeint ist. Nämlich zu autoritären Strukturen durch die Unterordnung aller organisationaler Reflexions- und Bewertungsschemata unter die Interessen eines Stakeholders: des Marktes.
“The business of business is business”3!? Ein Leitprinzip, das in einer Zeit von beginnender Klimakatastrophe und globaler Digital-Oligopole nicht im Sinne des Menschen sein kann (Amazons globale Logistik-Dominanz, Facebooks Metaverse, Googles defacto Kontrolle über die „Landkarte” des Internets, …).
Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass der organisationale Veränderungsdruck seit Jahren stark von einem globalen Markt und dem dahinterstehenden Paradigma des (möglichst) freien Spiels der Kräfte ausgeht. Das ist aber nur eine realitätsgestaltende Sichtweise. Aus unserem ganzheitlichen Anspruch heraus sind wir überzeugt:
1. Nachhaltige organisationale Beweglichkeit entspringt der Kanalisierung von Spannungsfeldern zwischen unterschiedlichen Stakeholdergruppen. Denn in der Bearbeitung dieser Spannungsfelder liegen die Qualitätspotenziale und in Folge auch jene wirkmächtigen Allianzen, die es für fundamentalen Wandel benötigt.
2. Auch Trends, Tools und Metho den, wie SCRUM, Holacracy, diverse Softwares etc., tragen implizit Intentionen und Ziele in sich, die zumindest sicht-, reflektier und diskutierbar gemacht werden müssen, um die organisationale Reflexionsfähigkeit aufrecht zu erhalten.
3. Organisationale Bewegung und Innovationskraft entstehen aus dem Hin und Herpendeln zwischen Gestaltungsfreiräumen und klaren Strukturen in verschiedenen Bereichen der Organisation. Freiräume öffnen Lern- und Veränderungsfelder; Phasen klarer Struktur und Richtung sorgen für die notwendige Umsetzungsenergie.
4. Die Kunst in der Prozessbegleitung liegt nun vor allem darin, diese Pendelbewegung und Balance der Interessen so zu begleiten, dass Lernen und Veränderung sowie zielgerichtete Umsetzungsenergie ausreichend Zeit und Raum finden.
Gestaltungskräfte in Bewegung
Welchen Mehrwert bringt nun eine ANT-Perspektive auf Organisationen in diesem ohnehin schon reichen Fundus an Modellen und Theorien? Nun, vor allem das wertfreie Anerkennen des Fundus selbst und einen gewissen Pragmatismus: Für die kommenden Herausforderungen werden uns Dogmen alleine nicht weiterhelfen – sofern wir nicht wie Goethes Zauberlehrling enden wollen. Wir werden die ganze Klaviatur bespielen müssen.
Denn im ANT-Verständnis sind Organisationen soziomaterielle Netzwerke. Das bedeutet: Hier richten sich Menschen, Institutionen, Ideale (z.B. Purpose, Werte, Grundannahmen, Visionen, Theorien, …), technische Artefakte (z.B. Produkte, Gebäude, Rollenbeschreibungen, Software, Prozesse wie SCRUM, Stage Gate etc., …) und Natur (durch die zunehmenden Auswirkungen der Klimaveränderungen) in Gleichwertigkeit aneinander und hin zu etwas (z.B. der Vision CO2Neutralität) aus.
Durch diese Gleichwertigkeit von „Sozialem“ und „Technischem“ rückt die Balance, Kompromissfindung und Verschmelzung bisher eventuell noch wenig beachteter Akteursgruppen in den Fokus, welche „die“ Organisation und deren Grenzen zu ihren Umwelten in Co-Creation stetig neu erschaffen: sogenannte Aktanten. Dazu gehören selbstverständlich auch Kund*innen, aber eben nicht nur. Denn ANT ist eine Methode, um organisationale Komplexität möglichst umfassend zu berücksichtigen. Dabei offenbart sie auch unerwartete Machtgefüge. Zum Beispiel die durch COVID-19 erforderlich gewordenen Technologien zur virtuellen Zusammenarbeit: Wie haben diese das Sozial und Machtgefüge in ihrem Betrieb beeinflusst? Haben sie eventuell sogar andere Entscheidungen hervorgebracht, die so im „Analogen“ nicht gefallen wären?
Daher sind Führungskräfte und -rollen heute besonders gefordert, Gestaltungskraft daraus zu gewinnen, unhinterfragte und festgefahrene Perspektiven aufzulösen (auch ihre eigenen!), die wesentlichen Aktanten an einen Tisch zu bringen und pragmatisch Brücken zwischen ihnen zu bauen. Um dann mit den daraus entstehenden neuen Dogmen wieder Wirksamkeit zu erreichen.
Sie sind also gefordert, aus der Organisations-Umwelt eine Mitwelt zu machen. Um eben dann aus dieser Mitwelt heraus wieder sinnvoll differenzieren zu können. Bewegte Organisationen befinden sich also in einem ständigen Prozess des Öffnens und Schließens. Sie gewinnen daraus nicht nur ihre Anpassungsfähigkeit, sondern auch ihre Innovationskraft.
ANT: Methodologische Prinzipien
Die bewegte Organisation als komplexes Stakeholder-Geflecht – ein hilfreicher Kompass dafür kann die Verinnerlichung von 3 Prinzipien aus der Actor-Network Theory (ANT) sein:
- Agnostische Beobachtung: ALLES wirkt. Jede Methode, Theorie, jedes Tool, das ich einsetze, verändert meine Anschauungen und Ziele und sollte daher immer gut reflektiert werden – eventuell „zensiere” ich damit sogar ungewollt die Protagonist*innen meiner Organisation und deren wertvolle Anschauungen. There is no in-formation, only transformation.
- Generalisierte Symmetrie: der Versuch, vermeintlich unterschiedliche Dinge (z.B. Organisationskultur und SAP- Systeme) mit der gleichen Sprache/dem gleichen Repertoire zu beschreiben, um ansonsten automatisch ent- stehende Trennlinien aufzuheben bzw. so Verknüpfungen sichtbar machen zu können, die sonst von vorneweg ausgeschlossen worden wären.
- Freie Assoziation: „Technologie ist Gesellschaft haltbar gemacht”5. Organisationen sind soziomaterielle Netz- werke. Allzu oft sind wir aber verleitet, klare Grenzen zwischen „dem Sozialen” und „dem Materiellen” (z.B. technische Objekte, Tools, Templates, …) zu ziehen und laufen damit Gefahr, wesentliche Zusammenhänge von vorneweg auszuklammern. „Freie Assoziation” ist ein Selbstanspruch, die Akteure einer Organisation und deren Perspektiven ernst zu nehmen und ihnen eine Stimme zu geben (das gilt auch für „nicht-menschliche” Akteure – z.B. was „will” das Stage-Gate-Template von mir? Welche darin „eingeschriebenen” Werthaltungen, Normen, Intentionen, Grenzen etc. transportiert es in der Anwendung?).
1 Deleuze, Guattari (1993): Tausend Plateaus, Foucault (1969): The Archeology of Knowledge
2 Bruno Latour (2012): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen
3 Milton Friedman (1970)
4 Latour (2017): Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime.
5 Bruno Latour (2005): Reassembling the social