Reclaiming Organisations - Wege aus der Erschöpfungsfalle

Wie wir wieder Lebendigkeit in die Unternehmen bringen. Was Selbstverantwortung, Pionier-Energie, Tabus und Organisationsstrukturen beitragen können. Und warum (Selbst-)Führung und humanistische Grundhaltungen wesentlich sind. Ein Bühnenstück mit intensiver Publikumsbeteiligung.

Prolog

Erschöpfung hat sich breit gemacht – das erleben wir in vielen Organisationen, die wir begleiten dürfen, bearbeiten wir in Coachings mit Führungskräften, beobachten wir in der Gesellschaft – und ab und an auch bei uns selbst. „Wie kann das sein?“, fragen wir uns im INOVATO-Team. Vor allem aber auch: „Wie finden wir da wieder hinaus?“.

Fragen, die es wert sind, in einer größeren, vielfältigen Runde zu erörtern, fanden wir. Deshalb haben wir Entscheidungsträger:innen oberösterreichischer Unternehmen in unseren „Raum Dazwischen“ eingeladen. Am Dienstag, den 10. Oktober 2023 sind wir mit unseren 25 Teilnehmer:innen im Kulturverein Schlot zusammengekommen, am Gelände der ehemaligen Matratzenfabrik Fehrer im Linzer Franckviertel.

Vorhang auf!

Erster Akt: "Reclaiming Story"

Spot an. Drei Sprecher:innen* treten nacheinander auf die Bühne. Sie erinnern an den Zauber des Anfangs und die Gründe, warum Menschen Unternehmen gründen. Den oftmals gar nicht bewussten Unternehmenszweck, die Energie und Lebendigkeit der ersten Zeit. Mit zunehmendem Wachstum steigt die Verantwortung, ebenso wie die Aufmerksamkeit von Stakeholder:innen - und damit der Druck. Es gilt, zu standardisieren, Aufgabenbereiche immer weiter zu spezialisieren, Unwägbarkeiten durch Regelwerke im Griff zu halten. Unversehens finden sich Menschen im Rad des Hamsters wieder, laufen und laufen, ohne weiterzukommen. Frust und Erschöpfung machen sich breit, die Lebendigkeit, der Anfangszauber und der für Orientierung sorgende Unternehmenszweck sind verloren oder verschüttet.

Ein Zustand, den auch Yves Michaelis gut kennt. Deshalb nimmt er nun am Sofa Platz, um im Gespräch mit Georg Sutter seine Unternehmensgeschichte nachzuzeichnen. Der gelernte Intensiv-Pfleger ist seit 13 Jahren Teil der Unternehmensführung des Born Gesundheitsnetzwerkes, das mit rund 400 Mitarbeiter:innen Intensivpflege an mehreren Standorten in Deutschland anbietet. An einem Punkt stehend, wo ihm klar wurde, dass der aktuelle Zustand weder für Kund:innen noch Mitarbeiter:innen gut ist, ist er auf Lalouxs Buch „Reinventing Organizations“ gestoßen (worden). Und hat beschlossen, dass es Zeit für Veränderung wird - hin zu mehr Selbstverantwortung.

Schnell wurde aber klar, dass es dazu erst einmal ein klares, gemeinsames Bild in der Unternehmensführung braucht. Wenn sich diese drei Menschen schon nicht auf ein einheitliches Ziel einigen und es klar vermitteln können, wie soll es dann im Unternehmen gelebt werden? „Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an“, das hat sich wieder einmal gezeigt. Die Rückbesinnung auf den Purpose, die intensive Auseinandersetzung mit dem „Wofür?“ des Unternehmens war dafür essentiell. Erst als hier unternehmensweit Klarheit herrschte, ging es an die Umsetzung.

Und dann...? Passierte erst mal wenig. Die Mitarbeiter:innen gingen nicht freudvoll in die Selbstverantwortung. Und es zeigte sich schnell: Wenn die Unternehmensführung alles loslässt, tun es die meisten anderen auch. Also wurde rückgebaut, indem wesentliche Entscheidungen wieder in der Unternehmensleitung getroffen wurden. Und plötzlich kam das System in Bewegung. Menschen fingen an, im neuen Rahmen selbstverantwortlich zu arbeiten.

Heute, nach vielen herausfordernden Auf und Ab steht das Unternehmen vor einem neuerlichen großen Schritt. Yves Michaelis plant, es im Management-Buy-out zu übernehmen und ins Verantwortungseigentum zu überführen. „Das Unternehmen soll sich selbst gehören“, der Fokus liegt auf dem Unternehmenzweck. Letzterer wurde übrigens über die Jahre immer wieder reflektiert und ist heute in „Ich-Form“ formuliert, um die Eigenverantwortung aller Mitarbeitenden im Bewusstsein zu halten.

Zweiter Akt: Eigene Erfahrungswelt & Schlüsselmomente

Das Publikum tritt aus seiner Rolle, die Besucher:innen werden zu Akteur:innen: Inspiriert von Yves Michaelis Unternehmensgeschichte tauschen sie Geschichten über Schlüsselmomente in ihren Unternehmen aus. In Triaden geben sie sich Zeit zum Erzählen und Zuhören. Um dann gemeinsam die zentralen Erkenntnisse herauszukristallisieren.

Und hier zeigt sich: Es braucht jedenfalls Führung, auch weil sie Unsicherheit nimmt. Fraglich ist aber, wie viel Führung es braucht. Oder umgekehrt gedacht: Wie viel Verantwortung kann und will ich überhaupt abgeben? Denn letztendlich muss sie ja jemand übernehmen, muss bei der Bank unterschreiben oder für die Einhaltung der Regularien den Kopf hinhalten. Somit wird das Erfordernis auch abhängig von der jeweiligen Branche und den Kontexten. Überall gilt aber jedenfalls: Die Menschen in Governance-Rollen und in der Geschäftsführung müssen sich klar zum Purpose des Unternehmens bekennen. Dieser ist unverhandelbar.

Selbstverantwortung lässt sich auch in einzelnen Elementen und damit auch in Hierarchien leben. Es ist ja vielmehr eine Haltungsfrage, wie sie eine Teilnehmerin auf den Punkt bringt: „Menschen laden wir ein. Ressourcen werden gemanagt.“

Damit Menschen in Selbstverantwortungen gehen, braucht es Orientierung, Klarheit und Freiraum, die ein miteinander in Zusammenhang und Abhängigkeit stehendes Dreieck bilden. In dessen Mitte steht das Vertrauen, das unabdingbar ist, damit Menschen selbstverantwortlich agieren können und wollen. Und es ist Verbundenheit nötig, entweder über Loyalität oder besser noch: laufendes Commitment. Doch wie kann dieses im Alltag immer wieder hergestellt werden?

„Wir irren vorwärts,“ formuliert ein anderer und alle lachen. Ein schönes Resümee.

Zeit für eine: Pause!

Dritter Akt: Postulate & Hebel

Vier Fürsprecher:innen betreten die Bühne und verkünden ihre Postulate:

  1. „Dynamische, komplexe und chaotische Zeiten brauchen Pionier:innen.“
  2. „Selbstverantwortung erschöpft.“
  3. „Jede Struktur ist die richtige.“
  4. „Die Provokation von Tabus ist ein Schlüssel für ein gelingendes Reclaiming der Organisation.“

 

Kann das sein? Oder ist das Humbug? Das gilt es nun zu hinterfragen! Wer will welches Postulat herausfordern? Das ist rasch geklärt und nun wird intensiv diskutiert: Erleben wir das so in unseren Unternehmen? Und wenn ja: Was bedeutet das? Die Stimmen schwirren und die vier Fürsprecher:innen sind gefordert, wesentliche Erkenntnisse festzuhalten.

 

Die da lauten:

Ja, dynamische, komplexe und chaotische Zeiten brauchen Pionier:innen. Aber ebenso brauchen Pionier:innen dynamische, komplexe und chaotische Zeiten. Zu finden sind sie überall in den Unternehmen, von der Spitze bis zur Basis. Und da sie meist über recht ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale verfügen, ecken sie an, können andere nicht immer mitnehmen. Es braucht also jemanden rundum, der/die sie erkennt, fördert und schützt. Der/die Entscheidungen trifft, andere von der Idee begeistert, den richtigen Zeitpunkt erkennt, Umsetzungswege aufzeigt und Projekte erfolgreich umsetzen kann. Dass das nicht nur eine Person sein kann, liegt auf der Hand. Generell braucht es eine Haltung dazu im Unternehmen, eine Bereitschaft zur Ineffizienz und einen klaren Sinn dahinter. Und ja, dann ist es möglich, dass auch etablierte Organisationen immer wieder Pionier-Energie aufbringen.

Ja, Selbstverantwortung erschöpft. Und zwar immer dann, wenn es keine Führung gibt. Denn es braucht Entscheidungen, in der Governance und im operativen Tun, es braucht Regeln und es braucht Konsequenz. Selbstverantwortung fordert das Individuum und braucht viel „Selbst“: -fürsorge, -reflexion, -aufrichtigkeit, -schutz, -wirksamkeit. Nur wer das aufbringen kann, kann in die Selbstverantwortung gehen. Und auch da ist Führung wichtig, indem sie Menschen fordert und fördert. Weshalb das Postulat ergänzt wird und nun lautet: „Selbstverantwortung ohne Führung erschöpft.“

Ja, jede Struktur ist die richtige! Ebenso gilt aber auch: „Jede Struktur ist die falsche“. Vor allem dann, wenn sie den Purpose des Unternehmens, sein Geschäftsmodell und die Strategie nicht voll unterstützt. Neue Modelle und Ansätze dürfen irritieren und Menschen aus ihren Komfortzonen holen. Nie aber dürfen sie ungewollt brechen und damit die Seele des Unternehmens zerstören. Kultur ist leise, sie schreit nicht. Und kann alles blockieren, wenn sie verletzt wird. Was also bedeutet: Strukturmodelle einführen, weil sie gerade gehypt werden, kann ordentlich ins Auge gehen. Vielmehr ist wichtig, dass Strukturen Transparenz und Sicherheit geben, einen Rahmen bieten. Vor allem aber auch: Sie müssen den Anspruch der permanenten Weiterentwicklung in sich tragen. Und auch hier gilt: Die Grundhaltungen sind wesentlich. Dann kann auch in einer hierarchischen Struktur agil und auf Augenhöhe miteinander gearbeitet werden.

Und ja, auch wenns aufs Erste recht kompliziert klingt: Die Provokation von Tabus ist ein Schlüssel für ein gelingendes Reclaiming der Organisation. Dafür muss man sie aber erstmal aufspüren, die Tabus und wird in kleinen Dingen, wie unausgesprochenen Kommunikationsregeln und an sozialen Orten wie der Raucherecke fündig. Sie auszusprechen braucht eine klar zugewiesene Rolle des Advocatus Diaboli. Die Person dahinter darf aber nicht zum Sündenbock werden, was beständiges Bewusstmachen erfordert. Es braucht anonyme und soziale Räume, um sie auszusprechen. Wer Angst vor Sanktionen hat, wird weniger wagen. Wer aber wagt, gewinnt Mut. Und den braucht es. Nicht immer aber ist es passend und richtig, Tabus auszusprechen. Sie stabilisieren ja nicht nur Probleme sondern schaffen einen Rahmen durch die Grenzen, die sie definieren. Es braucht also die passende Dosis, den richtigen Zeitpunkt und eine gemeinsame Reflexion. Und ebenso eine wertschätzende, dem Menschen positiv zugewandte Grundhaltung, damit das Unausgesprochene besprech- und bearbeitbar wird.

Epilog

Es sind Stunden der intensiven Auseinandersetzung, die nachwirken. Das zeigt sich beim Ausklang an der Bar, aber auch in Gesprächen in den Tagen danach. Des Rätsels Lösung ist noch nicht gefunden – und so einfach und deutlich wird sie sich auch nicht präsentieren. Aber das war auch nicht unser Ziel, an diesem gemeinsamen Nachmittag.

Klar ist: Wir werden dranbleiben. Am Thema ebenso wie am Format „Raum Dazwischen“. Falls Sie nun Lust bekommen haben, selbst einmal mit dabei zu sein, freuen wir uns auf Ihr E-Mail oder Ihren Anruf. Noch besser: Sprechen Sie uns einfach darauf an, wenn wir uns das nächste Mal begegnen!

*Barbara Jany, Franz Auinger, Georg Sutter

Abspann

-    Akteur:innen: Yves Michealis, Barbara Jany, Franz Auinger, Georg Sutter, Teilnehmer:innen
-    Moderation: Michael Auinger
-    Idee & Inszenierung: Michael Auinger, Georg Sutter, Barbara Jany, Franz Auinger
-    Organisation & Support: Lisa Schlader
-    Bühnenbild & Requisite: Kulturverein Schlot
-    Catering: Kulinario
-    Parkplatz-Support: pro mente OÖ


Eine Veranstaltung der Reihe „Dazwischen Raum“, in der INOVATO in losen Abständen zum auslotenden, erforschenden und Perspektiven erweiternden Dialog über aktuelle Themen in Organisationen und Gesellschaft einlädt.


Autorin:

Mag. Barbara Jany, MA
Gesellschafterin, Consultant und Geschäftsführung

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