Die Kraft von Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Spiegel des Unternehmens-Kontextes
Diversity steht für uns als grundsätzlich wertvolle und erforderliche Haltung einer Gesellschaft und damit das Akzeptieren und Fördern von Unterschiedlichkeit aufgrund von Geschlecht, Nationalität, Kultur, Hautfarbe uam. außer Frage. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen in Organisationen und Prozessen, unter Beachtung des Kontextes und seiner Einflussfaktoren und wann „allzu bunt“ auch kontraproduktiv werden kann.
Eine der gängigsten Annahmen bezüglich Leistung und Erfolg ist, dass Unterschiedlichkeit und Vielfalt, die beiden wesentlichen Dimensionen von Diversity, das Potenzial anreichern und zu besseren Ergebnissen und Teamleistungen führen. Somit werden oftmals alle Differenzierungen als erfolgswirksame Faktoren angesehen, die „nur“ genutzt werden müssen.
Aber ist das nicht auch zu einem guten Teil soziale Wünschbarkeit? Gehört es heute nicht zum „guten Ton“, Diversity zum Thema zu machen? Erleben wir Unterschiedlichkeit in der Praxis nicht oft auch gegenteilig – irritierend, ineffizient, leistungshemmend?
Wann ist die Vielfalt befruchtend, anregend und letztlich ergebnisverbessernd? Wann aber ist sie kontraproduktiv?
- Positiv wirksame Unterschiedlichkeit benötigt einen festen gemeinsamen Orientierungsrahmen. Dieser muss letztlich gut verankert und – zumindest in relevanten Phasen – kräftiger als die Wirkungskraft der Unterschiedlichkeit sein. Ein einmal erreichter Status ist keine Garantie für immer. Veränderte Umfeldbedingungen und immanente Zentrifugalkräfte drohen laufend die gemeinsame Basis nachhaltig zu irritieren.
- Damit Unterschiedlichkeit wirksam werden kann, benötigt es auch ausreichend Freiräume und Gestaltungsspielräume. Wenn Routinisierung und Standardisierung die prägenden Erfolgskriterien sind und kaum Innovationsräume zulassen, hat die Vielfalt wenig positiven Effekt. Zwar vorhandene, aber nicht aktiv gelebte Unterschiedlichkeit und damit verbundenes, nicht bearbeitetes Konfliktpotenzial kann im Zeitablauf destruktiv und zerstörend wirken.
- Damit komplementäre Kräfte zur Wirksamkeit kommen, muss dem Prozess des Wahrnehmens, Verstehens und Übersetzens ausreichend Zeit gegeben werden. Steht diese nicht zur Verfügung, können sich diese ergänzenden Fähigkeiten zueinander zu wenig ausformen; im schlimmsten Fall wirken sie kontraproduktiv in Bezug auf eine zu bewältigende Herausforderung oder sogar in Bezug auf die Unternehmensziele. Die Bereitschaft und der Raum für eine regelmäßige Prozessreflexion ist also eine wichtige Bedingung.
- Ein wesentlicher Enabler ist der „kulturelle“ Reifegrad des Systems und zwar im Sinne der Fähigkeit, mit Unterschiedlichkeit und Vielfalt umzugehen: Welche Werte und Haltungen sind prägend, wie verläuft der Diskurs über grundlegende Leitlinien, welche Fähigkeiten stehen dazu zur Verfügung und wie weit unterstützen diese den „selbstverständlichen“ Umgang und die eigengesteuerte Nutzung von Vielfalt?
Damit sind erste zentrale Einflussfaktoren für die Wirksamkeit von Vielfalt und Unterschiedlichkeit sichtbar:
- Eine ausreichende gemeinsame Basis und ein verbindlicher Orientierungsrahmen
- Vorhandene Freiheitsgrade und Gestaltungsspielräume
- Die Bereitschaft zur regelmäßigen, ganzheitlichen Prozessreflexion und ausreichend Zeit dafür
- Ein entsprechender Reifegrad der Unternehmenskultur
- Die Ausgewogenheit und Balance im Kraftfeld der gelebten Werte
Dieser fünfte Einflussfaktor, die Ausgewogenheit und Balance zwischen den gelebten Werten und Haltungen, entscheidet letztlich, inwieweit Unterschiedlichkeit konstruktiv wirksam genutzt werden kann.
Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Werte- und Entwicklungsquadrat
Das Werte- und Entwicklungsquadrat von Helwig/Schulz von Thun bietet für das Managen von Unterschiedlichkeit einen guten Orientierungsrahmen. Es wird an anderer Stelle dieser Ausgabe des inoVators („Und statt Entweder – Oder“) bereits detailliert beschrieben.
Der Versuch die beiden Werte Vielfalt und Unterschiedlichkeit auszubalancieren bildet das Spannungsfeld, in dem sich Diversity bewegt, gut ab. Damit verbundene Ansprüche an Haltungen und daraus folgende Handlungen werden sichtbar, die Voraussetzungen dafür, dass positive Effekte für das Zusammenwirken entstehen, werden offensichtlich.
Der positive Gegenwert der Vielfalt ist Einheit, Überblick. Hieraus resultiert im Idealfall ein Rhythmus, der die Prozesse flüssig macht. Damit ist oft ein „Blindes Verstehen“, ein höchst effizientes, energie- und ressourcenschonendes Vorgehen verbunden. Wenn diese Werteausrichtung in Prozessen von zentraler Bedeutung ist, kann Vielfalt vordergründig kontraproduktiv wirken. Denken Sie nur an hochgradig routinierte Chirurgie-Teams während einer Operation. Die Abläufe sind streng standardisiert, erprobt und perfektioniert. Jeder kennt seine Aufgaben und Rollen, rasches und flüssiges Handeln wird dadurch möglich. Keiner wäre gerne Patient, wenn die Beteiligten während der Operation unterschiedliche Meinungen und Ideen dazu hätten, wie die Operation an ihnen am besten durchzuführen sei.
Im zweiten Quadrat geht es um den Wert Unterschiedlichkeit. Dieser hat als positiven Gegenwert Haltungen und Fähigkeiten wie Gemeinsamkeit, Gleichklang – Werthaltungen, die vor allem die Offenheit und Aufnahmebereitschaft einer Kultur herausfordern. Gefordert sind Prozesse des dialogischen Auseinandersetzens, Gelegenheiten zur Reflexion und damit ein ausreichendes Maß an Zeit und ein bewusster Anspruch an den Reifegrad der Organisation.
In Kontexten, die Lernen und eine Steigerung der Qualität erfordern, ist der Quadrant der „Entwertenden Übertreibung“ von Bedeutung. Die Qualität einer hohen Perspektivendiversität liegt in ihrer Eigenschaft Spannungsfelder aufzubauen, in denen Lernprozesse initiiert werden können. Gleichzeitig birgt hohe Diversität jedoch auch die Gefahr, dass einander fremde, teilweise abgekoppelte Splittergruppen entstehen.
Im schlimmsten Fall driften die Ansichten immer weiter auseinander. Damit werden die richtige Mischung an Diversität und Kohärenz sowie die Aufrechterhaltung und Schaffung einer Grenzen umspannenden Kommunikationskultur zu einer zentralen Aufgabe. Es gilt Strukturen zu schaffen, die voneinander (scheinbar) getrennte Gruppen und trennende Haltungen durch moderierende/vermittelnde Akteure miteinander verbinden.
Quo vadis? Worauf gilt es zu achten …
Die oben angeführten zentralen Einflussfaktoren verweisen auf die besondere Bedeutung des Kontextes für die Wirksamkeit von Diversity: Unternehmenszweck, Ziele und relevante Umfeldbedingungen sind zentrale Maßstäbe des Managens von Unterschiedlichkeit. Führungskräfte müssen sich daher Fragen stellen wie:
- Was ist der Unternehmenszweck, von welchen Werten lassen wir uns leiten, welches Zielbild verfolgen wir, mit welchen Strategien und unter welchen geltenden Rahmenbedingungen können die Ziele am besten und nachhaltig realisiert werden?
- Was bedeutet das für die Gestaltung der Organisation und der Ablaufprozesse? Wie müssen die Systeme in den einzelnen Bereichen aussehen? Wie gelingt es ausreichend „Raum und Haltung“ für Reflexion, Austausch und Innovation i.S. des Lernens sicher zu stellen?
- Wenn im Kernprozess tatsächlich wenig Freiraum und sehr viel Routinisierung gegeben sein muss: Wo geschieht dann die Innovation? Wie wird sichergestellt, dass ein erforderlicher Wandel rechtzeitig erkannt wird? Wie kann dann in dieser Kultur die erforderliche Unterschiedlichkeit und Vielfalt gut zur Wirksamkeit gebracht werden? Oder bedarf es einer organisatorischen Trennung der Routineprozesse von den Innovationsprozessen? Müssen dafür eigene „Räume“ geplant und organisiert werden?
Die unternehmensspezifischen Antworten auf solche Fragen – die ohnedies zur Unternehmenssteuerung und -entwicklung immer wieder neu gestellt werden müssen – sind im Zusammenhang mit Diversity wesentliche Wegweiser für die Organisation, sowie ihre Aufgabenerfüllung sinnvolle und passende Kultur.
Diversity wird damit zu einer Kernaufgabe der verantwortlichen Führungskräfte. Sie sind es, die maßgeblich beeinflussen, ob das immense Potenzial der Unterschiedlichkeit negativ wirkt oder im Sinne des Unternehmenszwecks genutzt wird. Damit rückt aber die Frage nach der Führungskultur selbst in den Fokus. Nicht „mehr desselben“ sondern „anders und quer gedacht“ als Devise und zwar so, dass die daraus resultierenden Effekte einen gemeinsam gesehenen Mehrwert darstellen, verlangt eine kontextabhängige bewusste Wahrnehmung der Führungsrollen.
Diversity – Zentrale Einflussfaktoren für die Wirksamkeit
1.Eine ausreichende gemeinsame Basis und ein verbindlicher Orientierungsrahmen
2. Vorhandene Freiheitsgrade und Gestaltungsspielräume in den Strukturen und Abläufen
3. Die Bereitschaft zur regelmäßigen, ganzheitlichen Prozessreflexion und ausreichend Zeit dafür
4. Ein entsprechender Reifegrad der Unternehmenskultur
5. Die Ausgewogenheit und Balance im Kraftfeld der gelebten Werte
6. Die Haltung, Professionalität und Eigenreflexion der Führungskräfte
Die Führungskultur ist im Brennpunkt!
In den Managementdimensionen nach Prof. Eck kommt gut zum Ausdruck, wie sich unterschiedliche Kontextbedingungen und Führungshandeln auf die Entfaltung oder Nicht-Entfaltung von Unterschiedlichkeit und Vielfalt auswirken. In den Dimensionen des Leitens und Administrierens wird wenig Raum für Vielfalt geöffnet. Dies geschieht erst bei der Dimension des Führens und noch stärker beim Beraten. Die Haltung, Professionalität und Eigenreflexion der Führungskräfte wird zu einem weiteren erfolgswirksamen Faktor.
Welche Führungskultur ist erforderlich und wie weit ist dies auch den Entscheidern der Organisation wirklich bewusst? Was unterstützt die erforderliche Entwicklung, was hemmt sie? Wie offen muss/soll diese Kultur auch für Unterschiedlichkeit sein?
Auch hier gibt es eben keine einfache Antwort. Adäquates Führungshandeln muss sich am Kontext und dem Unternehmensziel orientieren. Heißt dieses Ziel z.B. neue Territorien zu beschreiten, spielt der bereits erwähnte gemeinsame Nenner (z.B. in Form einer expliziten, kräftigen Mission und Vision) eine Schlüsselrolle bzgl. der Wirksamkeit von Unterschiedlichkeit. Er kann einen Schwerpunkt im auseinander driftenden System setzen. Hier hätte Führung die wichtige Rolle, einen Raum für die Auseinandersetzung zu schaffen, die Integration voneinander abgetrennter Teile eines Systems mit hoher Diversität voranzutreiben, als Übersetzer und Moderator zu fungieren.
Dabei muss sie noch einen weiteren wesentlichen Wirksamkeits-Faktor berücksichtigen – die Zeitdimension der Sozialisationsprozesse.
Kulturentwicklung als Sozialisierungsprozess erfordert Zeit!
Was hat nun Sozialisation mit den bisherigen Überlegungen zu tun?
Im Grunde erfolgt durch Sozialisation eine Angleichung des individuellen Wissens der Organisationsmitglieder an das bestehende organisationale Wissen (eingebettet in Prozessen, Normen, Regeln, Routinen; bewusst und unbewusst). Für die Nutzung von Vielfalt ist das aber oft nicht gerade förderlich – es kann daher Sinn machen, diesen Prozess zumindest eine Zeit lang aufzuhalten bzw. zu entschleunigen.
Wird das Spannungsfeld lange genug aufrecht erhalten, haben die Organisation, die Abteilung, das Team, etc. nun selbst die Möglichkeit, Abweichungen vom „bereits Bekannten“ zu erkennen, darauf zu reagieren und so Bekanntes und Unbekanntes zu integrieren – kurzum, es kommt zu Veränderungen in den Prozessen, Routinen etc. – die Organisation lernt, während sie versucht, die entstandenen Dissonanzen auszugleichen. Erfolgt die Sozialisation an den Status Quo hingegen sehr schnell und sind die einzelnen Akteure zudem noch rasch anpassungswillig, gibt es dafür weniger Möglichkeiten – die Organisation erstarrt möglicherweise in den bestehenden Routinen.
Eine sehr rasche Sozialisation kann Sinn machen, z.B. für Aufgaben, die schnelles, möglichst effizientes Handeln erfordern, das sich gut standardisieren lässt – es kommt aber wie immer auf den Kontext und das Unternehmensziel an!
Führung sollte also bedenken, dass Diversity vor allem dann Früchte trägt, wenn Lernen und Innovation Ziele sind. Hier muss das Spannungsfeld aufrechterhalten und moderiert werden. Die Führungskultur sollte damit eher beratende Führungsrollen fördern um beide Teile, die bestehenden Wissensbestände der Organisation und davon abweichende Mitglieder, aufeinander einzupendeln.
Zusammengefasst heißt das für das Managen von Unterschiedlichkeit:
- Ein verallgemeinerndes, zu wenig reflektiertes Credo für Diversity kann den Erfolg des Unternehmens gefährden.
- Es bedarf eines Matchings zwischen Diversity und Gleichklang.
- Der Kontext ist dabei die steuernde Variable. Es ist z.B. zu klären, wo und wie Innovation und Transformation geschieht.
- Unterschiedlichkeit und Gleichklang auf die Ansprüche des Unternehmens, der Bereiche, der Funktionen abzustimmen, ist die eigentliche Führungs-Herausforderung.
- Damit ganz entscheidend: Die Auswirkungen in Richtung der Führungsprinzipien sind zu berücksichtigen und zu beschreiben. Die Führungskräfte sollten sich bzgl. ihrer Rollen und in ihrem Handeln laufend reflektieren.
- Es bedarf dazu der bewussten Gestaltung des Leitbildes als normativen Auftrag, der die erforderlichen Haltungen unterstützt und einfordert.
- Ein fester gemeinsamer Orientierungsrahmen ist für die Wirksamkeit von Unterschiedlichkeit essentiell.
- Dazu ist das Einrichten von Kommunikationsplattformen wichtig, auf denen Unterschiedlichkeit und die von ihr ausgehenden Wirkungen reflektiert werden können.
- Letztlich sind die Wechselwirkungen bezüglich der Einstellungs- und Förderpolitik sowie der gesamten Personalpolitik zu bearbeiten.