Im 4-mal-400-Meter-Staffellauf gibt es einen magischen Augenblick: Im Moment der Staffelübergabe erfolgt auch eine Übergabe der Verantwortung für das „möglichst schnelle Laufen“. Für die perfekte Übergabe sind beide gleichermaßen verantwortlich.
Etwas Ähnliches geschieht in Führungssituationen, wenn die Führungskraft ein Ziel „übergibt“ und die/der MitarbeiterIn die Ausführungsverantwortung „übernimmt“.
In vielen Managementbüchern wird über Verantwortung geschrieben, aber selten wird erklärt, was Verantwortung eigentlich ist.
Manchmal findet man dazu pointierte Gedanken in Zitaten, z.B.: „Im Unternehmen ist der Kelch der Verantwortung ein Wanderpokal.“ (Reinhard Sprenger) oder: „Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.“ (Laotse)
„Verantworten“ stammt aus der spätmittelalterlichen Gerichtssprache und bedeutet, gegenüber einem Richter für sein Tun Rechenschaft abzulegen.
Damit bezeichnet Verantwortung eine dreiseitige Relation: Jemand ist für etwas gegenüber einer Instanz verantwortlich.
Dementsprechend treten folgende drei Grundfragen auf:
- Wer ist unter welchen Bedingungen verantwortungsfähig und verantwortungspflichtig?
Als verantwortlich gilt der Mensch nur insoweit, als er „mündig“, d.h. in seinem Tun frei ist, ihm also mehrere Handlungsmöglichkeiten offen stehen und er die jeweiligen Folgen seines Handelns absehen kann. Verantwortung setzt also Freiheit voraus. - Wem ist jemand verantwortlich, welche Instanz kann Rechenschaft fordern?
Im juristischen Bereich ist dies der Richter. In den Unternehmen sind es die Eigentümer und alle darin arbeitenden Menschen, außerhalb ist es „die Gesellschaft“. Und schließlich ist der Mensch sich selbst gegenüber verantwortlich („Kann ich es vor meinem Gewissen rechtfertigen?“). - Worauf bezieht sich die Verantwortung?
Der Gegenstand von Verantwortung ist situationsabhängig und beruht auf normativen Urteilen über Gut und Böse bzw. über Nutzen oder Schaden. Dahinter stehen Werte und Beurteilungskriterien.
Die Führungs-Verantwortung betrifft die Ausrichtung auf Ziele, die Schaffung einer Aufgaben- oder Verantwortungs-Struktur und die Beauftragung geeigneter Personen mit diesen Aufgaben. Die Führungs-Verantwortung umfasst daher den „richtigen“ Gebrauch von Macht im Sinne erfolgreicher Entscheidungen.
Die Aufgaben-Verantwortung steht im Schnittpunkt organisatorischer und persönlicher Verantwortung. Mit der Übernahme einer Aufgabe verpflichtet sich eine Person, den damit verbundenen normativen Erwartungen bestmöglich zu entsprechen. Allerdings werden nur solche Aufgaben als verantwortungsvoll bezeichnet, bei denen eine bloße Pflichterfüllung nicht ausreicht, sondern Handlungs- und Ermessensspielräume das eigenständige Entscheiden der Aufgabenträger erforderlich machen.
Mit der Zuweisung von Führungs- und Aufgaben-Verantwortung ist die Erwartung Dritter verbunden, dass die Verantwortungs-Träger Entscheidungen treffen, die für diese Dritten einen Nutzen haben. Die Zuweisung von Verantwortung erteilt Macht und stellt zugleich einen Akt des Vertrauens dar. Man erwartet vom Verantwortungsträger die Fähigkeit, Vorgänge zu verstehen, sie zu planen, durchzuführen und zu beurteilen, Gewissenhaftigkeit bei der Ausführung und ggf. auch die Zurückstellung eigener Interessen.
Die Ambivalenz von Verantwortung wird sichtbar, wenn man die Zeitstrukturen unterschiedlicher Verantwortungsbegriffe betrachtet. Die rechtliche Verantwortung bezieht sich auf vergangene Ereignisse, entweder auf Handlungen, die Rechtsnormen verletzt haben (Schuld), oder auf entstandene Schäden, die einem Verursacher zugerechnet werden (Haftung). Verantwortung im Sinne des Eingehens von Entscheidungsrisiken in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist dagegen zukunftsbezogen. Lediglich die vorhersehbaren möglichen Folgen können Gegenstand der Entscheidungs-Verantwortung sein. Sie müssen bewertet und gegeneinander abgewogen werden. Der Erfolg der Entscheidung wird sich erst später herausstellen.
Kurz gefasst ergeben sich daraus folgende Aspekte:
- Verantwortung ist die (Selbst-)Verpflichtung, durch sein Handeln ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen.
- Das bedeutet, dass man die Folgen positiver Ergebnisse genießen kann („Ich bin für den Erfolg verantwortlich und profitiere davon“) oder für die Konsequenzen negativer Ergebnisse einstehen muss („Ich muss mich für den Misserfolg verantworten“). Das heißt: Zur (Selbst-)Verpflichtung tritt auch die Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen.
- Damit verbunden ist die Problematik der zeitlichen Dimension von Entscheidungen und Beurteilungen: Ich muss zukunftsbezogen handeln, werde aber rückblickend beurteilt.
- Verantwortung bedeutet also auch, Macht klug einzusetzen.
- Verantwortung setzt Mündigkeit bzw. die Freiheit des Handelns und des Willens voraus (d.h. die Fähigkeit, das eigene Handeln frei zu bestimmen und dessen Folgen abzusehen). Das bedeutet: Ich muss das Ziel kennen und mit ihm einverstanden sein, ich muss die nötigen Fähigkeiten haben, ich muss wollen und ich muss dürfen.
- Führungskräfte haben die letztendliche Verantwortung für geschäftspolitische Entscheidungen. Sie haben die Verantwortung, eine Organisation auf Ziele hin auszurichten, eine sinnvolle Aufgaben- oder Verantwortungs-Struktur zu entwickeln und geeignete MitarbeiterInnen mit diesen Aufgaben zu betrauen.
- MitarbeiterInnen haben die Verantwortung, innerhalb ihres übernommenen Aufgaben- und Kompetenzrahmens zielorientiert zu entscheiden und zu handeln. Für die eigene Leistung hat ausschließlich die/der MitarbeiterIn die Verantwortung. Sie/Er ist auch dafür verantwortlich, aufmerksam zu machen, wenn etwas nicht machbar ist, wenn sie/er Hilfe braucht etc.
- Im Sinne der Mitwirkungsmöglichkeit der MitarbeiterInnen überschneiden sich schließlich auch die Verantwortungsfelder von Führungskräften und MitarbeiterInnen: es kommt zur Mitverantwortung – der Bereitschaft, Handlungsspielräume im Bewusstsein von Möglichkeiten und Risiken eigeninitiativ auszufüllen.