Reflexion
Der Begriff „Reflexion“ wurde in der Philosophie von Platon über Locke, Rousseau, Herder, Kant, Fichte, Hegel, Husserl, Sartre, Kierkegaard, Heidegger und in der näheren Vergangenheit von Adorno, Bateson, Luhmann und vielen mehr ausführlich diskutiert. In diesem Beitrag sollte nun keine wissenschaftliche Diskussion entfacht oder abgebildet, sondern das Augenmerk auf die im Alltag erkennbaren Herausforderungen und Nutzenaspekte im Zusammenhang mit Reflexion und Führung gerichtet werden.
Alltagssprachlich wird unter Reflexion der Vorgang des Nachdenkens, Überlegens, Prüfens, aber auch des sich Besinnens verstanden. In jedem Fall geht es darum, erlebte oder beobachtete Erfahrungen und Ereignisse nochmals in Ruhe aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Das Ziel ist dabei, vorschnelle subjektive emotionale Bewertungen zu reduzieren und anderen, erweiterten Betrachtungs- und Einschätzungsmöglichkeiten mehr Platz zu bieten.
Die Macht der Emotionen
Was es vielen Menschen schwer macht, Erfahrungen unmittelbar in der Situation gut zu reflektieren und zu differenzierten Erkenntnissen zu gelangen, ist der Umstand, dass Menschen, besonders in herausfordernden Situationen, auf bereits bekannte ähnliche oder unbewusst abgespeicherte lebensgeschichtliche Erfahrungen zurückgreifen. Diese Erfahrungen sind meist mit positiven oder negativen Emotionen besetzt, die in Alltagssituationen, die Parallelen zu früheren emotional besetzten Erfahrungen aufweisen, wieder voll zur Entfaltung kommen können. Dies gilt für Umgebungssituationen, Orte oder Plätze genau so, wie für bestimmte Personentypen, Gruppenkonstellationen, Handlungsabläufe oder auch räumliche Ausstattungen, Gerüche und akustische Eindrücke. Erinnerungen sind also in der Lage, alte emotionale Erfahrungen wieder wach zu rufen und eine distanzierte Betrachtung und differenzierte Reflexion unmittelbar in der Situation zu erschweren oder völlig zu unterbinden. Erst mit zunehmendem Abstand vom Ereignis fällt es wieder leichter, Situationen nüchterner und emotionsfreier zu betrachten.
Zwei Beispiele: Auch wenn Sie sich während einer Auseinandersetzung mit einem Menschen noch so sehr geärgert haben, wird die Situation mit etwas Abstand weniger dramatisch erscheinen. Es werden Ihnen Lösungsansätze oder gar Lösungsvarianten einfallen, an die Sie in der Situation nicht annähernd gedacht hätten. Oder, wenn Sie während einer Produktpräsentation noch so begeistert waren und für Sie völlig klar war, wie Ihre Entscheidung ausfallen wird, können Sie sicher sein, dass sich mit zunehmender Distanz zum Ereignis auch Ihr kritischer Blick wieder schärft.
Emotionen können also unsere Reflexionsfähigkeiten, insbesondere in herausfordernden Situationen, sehr stark einschränken und das hat weniger mit der Situation an sich zu tun als viel mehr mit den Vorerfahrungen, die wir im Zusammenhang mit ähnlichen Situationen in unserer Lebensgeschichte gesammelt haben. Diese Vorerfahrungen sind es auch, die unsere Wahrnehmungsfokussierung schärfen, unsere Wahrnehmungsfilter aktivieren und unseren subjektiven Blick auf die Welt bestimmen, wenngleich wir diesen Blick in unseren persönlichen Entwicklungsprozessen ständig nachjustieren.
Bewusste Reflexion, vor allem auch im Zusammenhang mit der Reflexion persönlicher Emotionen – also Selbstreflexion, wird in der Regel von Menschen nicht selbstverständlich praktiziert. Es ist eine Frage der Reflexionsbereitschaft und Reflexionsfähigkeit, ob wir persönliche Veränderungs- und Entwicklungsprozesse bewusst wahrnehmen oder ob sie uns quasi passieren; ob wir in der Lage sind, unsere inneren emotionalen Treiber zu identifizieren und ihre Impulse zu relativieren oder ob wir ihnen hilflos ausgeliefert sind und sie unser Verhalten steuern. Erst eine bewusste Reflexion unserer Verhaltenstendenzen in unterschiedlichsten Alltagssituationen ermöglicht es uns, bewusster und autonomer zu handeln und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit zu bewusstem, autonomen und eigenverantwortlichem Handeln wirkt außerdem selbstwertstärkend und fördert den distanzierten und reflektierten Blick auf sich selbst und andere und einen bewussteren Umgang mit den eigenen persönlichen Emotionen.
Wie sich Reflexionsfähigkeit fördern lässt
Es beginnt mit der Bereitschaft zur Selbstreflexion und der Anerkennung dessen, dass unsere Wahrnehmungsperspektive grundsätzlich eingeschränkt ist und nicht unwesentlich von unseren eigenen Emotionen mitgesteuert wird. Wichtig ist dabei auch die Bereitschaft, sich ganz bewusst auf Neues, Fremdes, Unbehagliches, unterschiedlich Anderes, vielleicht sogar auch auf Angstbesetztes einlassen zu wollen. Was das Einlassen auf neue Perspektiven betrifft, so ist es ratsam, hier den Weg der kleinen Schritte zu gehen, gut dosiert, aber konsequent, die niederschwelligen Herausforderungen zuerst und mit dem Bewusstsein, die neuen Erkenntnisse nicht zwingend annehmen zu müssen, sondern als mögliche Perspektiven zu respektieren und „stehen lassen“ zu können. Gerade in solchen selbstreflexiven Annäherungsphasen ist ein behutsamer und toleranter Umgang mit sich selbst gefragt. Es geht um das Bewusstwerden, dass es auch noch andere mögliche Sichtweisen gibt, deren Standpunkte bei näherer Betrachtung ebenfalls schlüssig und aus der jeweiligen Perspektive sinnvoll erscheinen können, ohne dass diese übernommen werden müssen. Gelingt dieser Schritt, wird ein wertvoller Reflexionsprozess angestoßen, der zu einer persönlichen Horizonterweiterung führt.
In einem nächsten Schritt könnte bereits ein Selbstreflexionsprozess eingeleitet werden, in dem bewusst ausgesprochen oder niedergeschrieben wird, welche speziellen Situationen oder Impulse im Alltagsleben meine persönlichen Emotionen auf den Plan rufen. Dabei geht es noch gar nicht um eine gezielte Bearbeitung, sondern vorerst lediglich um das Erkennen und Bewusstmachen jener persönlichen „Auslöser“, die in bestimmten Situationen bestimmte persönliche Emotionen aktivieren. Diese persönlichen Emotionen als legitim annehmen zu können, vor dem Hintergrund dessen, was das Leben bisher an Herausforderungen und daraus resultierenden Lernerfahrungen geboten hat, stellt wohl für viele Menschen eine besonders hohe Herausforderung dar.
Jede emotionale Regung macht Sinn und würde sich mit Sicherheit als sinnvolle Begleiterscheinung belegen lassen, würde man die tatsächlichen Hintergründe für ihr Auftreten jeweils durchgängig nachvollziehen können.
Auch dieser Schritt ist bereits eine wertvolle Übung zur Förderung von persönlicher Reflexionsfähigkeit, der mit fremder und/oder fachlicher Unterstützung zusätzlich noch intensiviert werden kann. Fremde Unterstützung kann das Aussteigen aus eigenen Denkspiralen erleichtern und über Feedback das Auflösen unbewusster blinder Flecken fördern.
Gelingt es, an diesen beiden skizzierten Schritten konsequent festzuhalten und in Reflexionssequenzen eine Vielzahl möglicher erweiterter Perspektiven bewusst einzu¬beziehen, trägt das wesentlich zu einer gesteigerten persönlichen Reflexionskompetenz und somit auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei.
Reflexionskompetenz ist mehr als abstrakte Analyse und penibler Datenabgleich
Reflexionskompetenz wird fälschlicherweise häufig ausschließlich mit rational-analytischer Reflexionsfähigkeit vor dem Hintergrund von idealtypischen Vorstellungen, theoretischen Konstrukten oder Überlegungen verstanden. Es ist natürlich richtig, dass ausgeprägte kognitive Fähigkeiten in Reflexionsprozessen besonders förderlich sein können. Reflexionskompetenz hat aber nicht nur mit kognitiven und rational-analytischen Betrachtungsfähigkeiten zu tun, sondern ganz besonders auch mit intuitiven und sozialen Wahrnehmungskompetenzen und der Fähigkeit, insbesondere bei komplexeren und vielschichtigen Phänomenen, Zusammenhänge erahnen und erkennen zu können. Gemeint sind hier Bewusstseinsstandpunkte als mögliche erweiterte Betrachtungsperspektiven, die stärker auf Gefühlen oder dem Gespür – vor dem Hintergrund implizit vorhandenem Erfahrungswissen – beruhen, als auf harten – naturwissenschaftlich begründbaren – Daten und Fakten. Dieser Betrachtungsstandpunkt gewinnt insofern zunehmend an Bedeutung, als wir es mit immer komplexeren und hochdynamischen Phänomenen und Systemen zu tun haben, bei denen rein rational-analytisch technische Betrachtungsmodelle einfach zu kurz greifen. Ausgeprägte Reflexionskompetenz umschließt daher mehr als hohe rational-analytische Denkfähigkeiten.
Ausdruck für eine ausgeprägte Reflexionskompetenz:
- Ausgeprägte kognitive Fähigkeiten
- Ausgeprägte Wahrnehmungs- und Selbstwahrnehmungsfähigkeiten
- Ausgeprägte intuitive Fähigkeiten
- Die eigenen emotionalen Neigungstendenzen kennen und zu ihnen stehen können
- Sich auf verschiedene Wahrnehmungsebenen und Standpunkte einlassen können
- Die Fähigkeit, unterschiedliche Betrachtungsstandpunkte einnehmen zu können
- Sich der persönlichen bevorzugten Betrachtungsstandpunkte bewusst sein
- Den persönlichen bevorzugten Betrachtungsstandpunkten nicht unreflektiert folgen
- Die Fähigkeit zwischen verschiedenen Standpunkten flexibel wechseln zu können
Der Meta-Blick und was Führungskräfte in der Zukunft erfolgreich macht
Der Begriff „Reflexionsfähigkeit“ taucht gerade in der jüngeren Vergangenheit verstärkt als unerlässliche Basisqualifikation im Zusammenhang mit Beschreibungen in Anforderungsprofilen für Führungskräfte auf. Dass Reflexionsfähigkeit wichtig ist, ist zwar nicht neu, dass unter ausgeprägter Reflexionsfähigkeit allerdings nun wesentlich mehr verstanden wird, als über gute rational-analytische Fähigkeiten zu verfügen, eher schon. Zunehmend wird von Führungskräften erwartet, dass es ihnen gelingt, hochkomplexe und hochdynamische Organisationseinheiten auf Kurs zu halten und mit ihren Interventionen erfolgreich zu sein. Für die Führungskräfte bedeutet das einerseits, dass sie in der Lage sein müssen, die rational-analytisch fassbaren Parameter zu überblicken und situativ richtig zu bedienen. Andererseits ist es aber erforderlich, auch den rational oft schwer fassbaren, komplexen dynamischen Herausforderungen mit Weitblick und gutem Gespür intuitiv richtig zu begegnen und übergreifende erfolgreiche Interventionen zu setzen. Das verlangt einen ausgeprägten dynamischen Meta-Blick, eine Mischung aus rational-analytischer und intuitiver Reflexionsfähigkeit und hohe Selbstreflexionskompetenz.
Basisqualifikationen, im Zusammenhang mit Reflexion, über die Führungskräfte in der Zukunft verfügen sollten:
- Rational erfassbare Anforderungen und Parameter überblicken können
- Rational schwer erfassbare Einflussfaktoren erahnen und bewusst machen
- Wertschätzung und Würdigung unterschiedlicher Standpunkte
- Die Perspektiven, der ihnen unterstellten Mitarbeiter hören, verstehen und nutzen
- Unterschiedliche Sichtweisen und Ansätze als Ressource sehen
- Eine klare innere Positionierung in der Vielfalt an Möglichkeiten finden
- Eine offene Feedback-Kultur fördern und die Suche nach Schuldigen verbannen
- MitarbeiterInnen und FührungskräftekollegInnen als Reflexions- und Soundingboard nutzen
- Sich für die Ausrichtung der Organisationseinheit verantwortlich fühlen
- Mitarbeiterführung konsequent wahrnehmen und für sie laufend präsent sein
Dinge einmal anders sehen
Jeder Schritt in Richtung differenzierter Betrachtung fördert die Reflexionsfähigkeit und mit ihr auch die Persönlichkeitsentwicklung. Daher wirkt jede Diskussion, jedes offene Gespräch mit Andersdenkenden, jede Auseinandersetzung abseits von der gewohnten Alltagsumgebung (z.B. gezielt in Seminaren, Workshops und Coachingsequenzen) oder jede Auseinandersetzung mit bisher nicht bekannten Modellen und Ansätzen bereits perspektiven¬er¬weiternd und reflexionsfördernd.
Jede Möglichkeit des Heraussteigens aus gewohnten Alltagssituationen, des bewussten Einlassens auf wenig vertraute Sichtweisen und des gedanklichen und empfindungs¬mäßigen Durchspielens der Alltagssituationen, vor dem Hintergrund ergänzender Perspektiven, ist bereits wertvolle Reflexionsarbeit und eröffnet neue Denk- und Handlungs¬spielräume. Gelingt es dann sogar, den einen oder anderen Betrachtungs¬standpunkt im Alltag zu integrieren, bedeutet das, dass zusätzliche Standpunkte in der Alltagsreflexion zur Verfügung stehen, die Betrachtungen differenzierter ausfallen und die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten vielfältiger werden.
Ein Gedankenexperiment zum Abschluss (Reflexionsübung)
Wie es gelingen kann, vorschnelle subjektive Bewertungen aufzulösen und daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen:
1. Denken Sie an eine konkrete Situation aus der Gegenwart oder aus der Vergangenheit, die Sie emotional besonders belastend empfinden oder die Sie zu Euphorie und Begeisterung verleiten kann.
2. Vergegenwärtigen Sie sich diese Situation:
a. Wo ist der Handlungsort genau?
b. Wer ist aller anwesend?
c. Worum geht es genau?3. Versuchen Sie sich bewusst zu machen, welche Gefühle und körperlichen Regungen für Sie wahrnehmbar werden, wenn Sie an die Situation denken. Atmen Sie dabei ruhig weiter!
4. Versuchen Sie nun Ihre emotionalen Bewertungen bewusst wahrzunehmen und als gegeben anzunehmen.
Dies gilt für Abwertungen aufgrund von Vorerfahrungen oder abgesicherten persönlichen Einstellungen genauso, wie für positive (Über-)Bewertungen. Mit Annehmen ist gemeint, das Gefühl oder die Empfindungen bewusst wahrnehmen, „einfach sein zu lassen“, „in Schwebe zu halten“, nicht dagegen ankämpfen, aber sich auch nicht von den Gefühlen und Empfindungen überwältigen lassen. Der Situation bewusst ins Auge blicken und sein lassen, was Sie wahrnehmen.5. Versuchen Sie, Ihre emotionalen Bewertungen (oder inneren Überzeugungen) – so gut das geht – bewusst loszulassen, in Schwebe zu halten, aus einer gewissen Distanz zu betrachten.
6. Atmen Sie ruhig weiter, machen Sie sich bewusst, wie sich dieser Zustand für Sie anfühlt und vielleicht auch verändert.
a. Was bleibt nun?
b. Was nehmen Sie genau wahr?
c. Welche Gedanken und Handlungsimpulse tauchen nun auf?7. Versuchen Sie, diese Gedanken und Handlungsimpulse festzuschreiben und in Ihren Entscheidungen für den Umgang mit dieser Situation zu berücksichtigen.
Wenn es Ihnen gelingt, sich auf diese Übung einzulassen, kommen Sie in einen Zustand, in dem sich bewährte persönliche Bewertungen aus Ihrem Erfahrungsalltag etwas zu relativieren beginnen und neue Möglichkeiten des Handelns bewusst werden. Es ist letztlich immer noch Ihre Entscheidung, wie Sie mit solchen und ähnlichen Situationen umgehen, aber Sie haben die Situation nun nochmals auf eine Weise reflektiert, die emotionale Vorerfahrungen relativiert. Das bringt Sie letztlich in die Lage, intuitiv an Ihr implizit vorhandenes vielfältiges Vorwissen relativ wertneutral anzuknüpfen und es für Sie verfügbar zu machen. Optimale Lösungen von komplexen dynamischen Heraus¬forderungen benötigen genau diese erweiterten Zugangsmöglichkeiten.
Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Sie nicht auf Anhieb auf die gestellten Fragen Antworten finden. Es empfiehlt sich, die Übung anfänglich in einer entspannten Umgebung durchzuführen. Erst mit zunehmender Routine werden die Antworten vielfältiger und griffiger ausfallen.
Gutes Gelingen!