ANDREA AUINGER im Gespräch mit HARALD SCHMID über Zeiten von Unsicherheit und Führungslosigkeit.
In volatilen, brüchigen Phasen der Entwicklung von Märkten, Branchen und somit der Unternehmen, entstehen Unsicherheiten und Ängste. Einfache Antworten werden erwartet und gesucht, weil sie beruhigen. Klare Aussagen sind erwünscht, weil sie Orientierung geben. Gerade auch in Unternehmen, die als Gestaltungs- und Entwicklungsräume unserer Vergesellschaftung gesehen werden können, steigt der Erwartungsdruck, wachsen oft nicht erfüllbare Sehnsüchte und Hoffnungen.
ANDREA AUINGER Was trägt zur wachsenden Unruhe in der Zusammenarbeit bei?
HARALD SCHMID Die letzten Jahre waren nicht nur geprägt von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Turbulenzen, sondern auch durch völlig neue Arbeitsstrukturen in vielen Unternehmen. Aus der (coronabedingten) Not geboren, ist hybrides Arbeiten mittlerweile zum Standard geworden. Dabei wurde vielfach übersehen, dass Distance-Work auch zu einer Distanzierung der Mitarbeitenden vom Team oder der Organisation führen kann. Die Folgen? Bindung und Loyalität zum Unternehmen nehmen ab, die Fluktuation steigt, Teams kommen ressourcenmäßig unter Druck, der Frust bei den Verbleibenden ist groß und nicht selten wird dadurch auch das Arbeitsklima aggressiver.
ANDREA AUINGER Ich merke, dass der Wunsch nach Stabilität, nach Wir-Gefühl, nach klaren Antworten immer stärker wird, die Themen sich aber zunehmend komplexer gestalten. Neue Formen der Füh- rung (z.B. durch flachere Hierarchien) verhindern oft Antworten, weil für Mitarbeitende eine Art gefühlte Führungslosigkeit entstehen kann, was nicht nur verunsichert, sondern auch der Weg „Wo soll es hingehen“ nicht mehr erkennbar ist. Oft fühlt sich niemand mehr wirklich verantwortlich, dadurch geht die Kraft, der Zug zum Tun und das Wir verloren. Das Credo lautet: „Du sollst nett und nicht (über) fordernd sein!“ Jedoch wenn der Steuermann am Schiff keine Richtung mehr vorgibt, nichts eintaktet, kommt Chaos auf. Dass da auch Aggressionen, Konflikte oder eine gewisse Wurschtigkeit entstehen können, liegt auf der Hand. Wer übernimmt also Verantwortung? Darf man überhaupt noch führen? Oder ist das uncool geworden? Wer gibt bzw. wie geben wir uns wieder Hoffnung?
HARALD SCHMID Dein Beispiel mit dem Steuermann möchte ich aufgreifen. Zu mir hat vor kurzem ein führender Manager gesagt: „Heute macht Strategiearbeit kaum mehr Sinn. Wir alle sind nur mehr Passagiere auf einem Schiff, dessen Reiseroute vorwiegend von den globalen Wirtschaftsströmungen bestimmt wird. Und diese ändern sich permanent. Was heute gilt, ist morgen out.“ Dieses Statement bringt das, was ich aktuell vielerorts wahrnehme, auf den Punkt. Führungskräfte, die, überfordert von den multiplen Krisen, nicht mehr ins Steuern kommen. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass man von diesen unkontrollierbaren Strömungen in ruhigere Gewässer und nicht gegen Felsklippen getrieben wird. Daher kann ich den von dir angesprochenen Eindruck zunehmender Führungslosigkeit nur bestätigen. Wir erleben auch eine Krise des Handelns in der Führung.
„Der Umgang mit Unsicherheit wird in den kommenden Jahren zum Schlüsselfaktor in der Führung werden.“
ANDREA AUINGER Ich merke auch die wachsende Aggressivität. Unsicherheit, Ängste oder Stress verstärken sie. Das hat wahrscheinlich auch mit Kontrollverlust zu tun (wir können nichts gegen Pandemien, Krieg, … tun), eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten (Abhängigkeit von Lieferketten, drohender Jobabbau, …). Aggression wird aber teilweise auch selbst gemacht, wenn wir uns als Gesellschaft nicht wieder auf grundlegende Prinzipien und Werte (wie Zusammenhalt, Verantwortung, Respekt, Empathie, …) besinnen. Das betrifft auch unser Handeln und Wirken als Eltern.
Nicht zulezt befinden wir uns derzeit in einer sogenannten „Müdigkeitsgesellschaft“. Darüber hat der Philosoph Chul-Han ein spannendes Buch geschrieben. Die vielen vorherrschenden Krisen zeigen sich in Erschöpfung und Müdigkeit. Sie lassen uns abstumpfen, machen antriebslos, nehmen den Mut für eine gute Zukunft. Es hat eine gewisse Trostlosigkeit um sich gegriffen. Depressionen und Angststörungen sind stark im Steigen.
HARALD SCHMID Der Umgang mit Unsicherheit wird meines Erachtens in den kommenden Jahren zum Schlüsselfaktor in der Führung werden. Diese Kompetenz kann man aber nur erlangen, wenn man sich in die Unsicherheit begibt und lernt, dass es trotzdem weiter geht.
Das bedeutet, dass Führungskräfte auch dann die Richtung vorgeben müssen, wenn neue und unbekannte Gewässer durchfahren werden müssen. Denn eine jahrzehntelange Ära gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Scheinsicherheit geht zu Ende. Am besten werden damit jene Unternehmen zu Rande kommen, in denen Selbstwirksamkeit, Teamspirit und Eigenverantworung bereits bisher Teil der eigenen DNA waren. Alle anderen werden gefordert sein, hier eine steile Lernkurve hinzulegen, um weiter bestehen zu können.
ANDREA AUINGER Ich stimme dir voll zu. Menschen be- finden sich im Rückzug, igeln sich in Büros ein oder verschwinden im Homeoffice. Sozialer Rückzug ist aber kein Ausweg. (Eigen-)Verantwortung muss wieder gelebt werden. Selbstwirksamkeit – sich im Tun und im Miteinander wieder wirksam erleben, Anerkennung, Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit spüren. Das Leben (ob privat oder beruflich) mit Sinn füllen. Vom Gegeneinander zum Miteinander umschwingen. Dazu braucht es aber auch Mut und vor allem die Erlaubnis, es auch tun zu dürfen. Führung muss wieder „in“ werden – damit meine ich keine autoritäre Führung, sondern das „Wohin“ gemeinsam erarbeiten und auch vorgeben dürfen, also wieder ans Steuer gehen, sich gegenseitig stärken und wegkommen vom „Sudern“. Im Sinne von Mindful Leadership agieren. Sich selbst reflektieren können, durch einen ruhigeren Geist fokussierter mit Themen umgehen, die eigene Präsenz stärken und einen kreativen Raum für Neues schaffen und ausprobieren dürfen.
Und unseren Kindern wieder ein kräftiges Gegenüber werden, echte Kinder-Eltern-Interaktion leben, denn dort werden die Grundsteine für Sicherheit, Bindung und Verhalten gelegt.
Conclusio
Hinschauen statt wegschauen! Unternehmen müssen vermehrt auf die (psychologischen) Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen, was teilweise schon durch ausgelagerte Unterstützungssyteme in Form von Coachings, Supervisionen oder auch Psychotherapie passiert.
Begeisterung muss wieder spürbar werden. Diese kann auch ansteckend wirken.
Und: Vorbild werden! Führung in einer neuen Qualität muss wieder „in“ werden.
HARALD SCHMID ist Gründer und Inhaber von klaglos.at, Unternehmensberater, Managementtrainer, Coach und Buchautor. Als ausgebildeter Coach und Mediator ist er u.a. spezialisiert auf die Begleitung und Beratung in schwierigen Führungssituationen, Management-Coaching sowie Konfliktberatung, -moderation und -training.