EVA MAURERBAUR über unsichtbare Spielregeln, die – bewusst oder unbewusst – den Status quo absichern und damit Veränderungen hemmen.
Tabus wirken wie Filter, die unerwünschtes Verhalten ausblenden oder gar sanktionieren und das verstärken, was als zur Organisation passend angesehen wird. So stabilisieren sie das soziale Gefüge mit seinen Normen, Haltungen, Werten und Strukturen. Doch dieser Schutz hat einen hohen Preis.
Anna sitzt in der wöchentlichen Teambesprechung. Alles wie immer: Statusberichte, nackte Zahlen, keine Überraschungen. Jede:r erfüllt, was vom Chef erwartet wird: polierte, harmlose Updates, Zustimmung, Nicken, freundliches Grinsen. Doch in Anna brodelt es. Es fühlt sich für sie wie eine Farce an. Prozesse sind veraltet, Entscheidungen schleppen sich und die Kultur erstickt jede Kreativität sowie mutige Neuerungen.
Doch das ansprechen? Bloß nicht! Wer den Status quo infrage stellt, wird niederschwellig aber konsequent kaltgestellt. Also schweigt sie. Frustriert, genervt und innerlich rebellisch. Und nicht nur sie leidet – die gesamte Organisation stagniert, während die unausgesprochenen Probleme immer größer werden.
Annas Dilemma: kein Einzelfall
In vielen Organisationen blockieren unsichtbare Spielregeln den Wandel. Diese „Spielregeln“ sind nichts anderes als Tabus.
Sie hemmen die Dynamik und blockieren Innovation. Organisationen, die starr an ihren Tabus festhalten, gleichen Schiffen, die zwar sicher im Hafen liegen, aber nie das offene Meer befahren – und damit auch keine neuen Horizonte entdecken.
Das Schweigen brechen?
Tabus sind mächtig, aber nicht unüberwindbar. Der erste Schritt ist, sie sichtbar zu machen. Sobald das Schweigen gebrochen wird, beginnt ihre Macht zu bröckeln und es kann Raum für Neues entstehen. Aber dieser Weg ist alles andere als einfach. Tabus sind tief in Verhalten, Machtverhältnissen sowie Strukturen und Prozessen einer Organisation verankert. Sie zu hinterfragen bedeutet, Gewohnheiten, Vertrautes, auch jahrelang Erfolgreiches und Hierarchien infrage zu stellen. Dieses Infragestellen zieht somit Unsicherheiten, Verlustängste, Zweifel, Un- und Missverständnis nach sich. Gleichzeitig wachsen Begeisterung, Mut, Kreativität und Spielfreude. Es ist ein ständiges Ringen von Alt und Neu, Vertrautem und dem Unbekanntem.
Eine Kundin drückte es so aus: „Es fühlt sich an, als würden wir am offenen Herzen der Organisation operieren. Es ist schmerzhaft, erschöpfend, aber auch unendlich befreiend.“
Zwischen Unsicherheit und Hoffnung
Für echte Veränderung müssen diese widersprüchlichen Kräfte durchlebt und balanciert werden. Es braucht Räume für achtsame und einfühlsame Dialoge, in denen Zuhören und Verstehen im Mittelpunkt stehen. Feingefühl ist dabei entscheidend, denn dieser Prozess ist sensibel. Einmal aufgebrochene Tabus lassen sich nicht einfach wieder ausblenden. Die Annäherung an das bisher Ungesagte und die gemeinsamen Erfahrungen auf diesem Weg hinterlassen Spuren bei allen Beteiligten. Wenn der Prozess scheitert, können die Folgen weitreichend sein – es gibt kein Zurück zum alten Status quo, weil das Erlebte nicht ungeschehen gemacht werden kann. Deshalb braucht es nicht nur Mut, sondern auch Demut, um die Ängste und Unsicherheiten, die aufkommen, anzuerkennen und sensibel damit umzugehen.
Das Verbindende darf dabei niemals aus dem Blick geraten. Es ist das Fundament für den Wandel. Wenn dieser Prozess mit Sorgfalt und Feingefühl getragen wird, können neue Perspektiven und ein Raum entstehen, in dem nicht die Angst vor dem Unbekannten dominiert, sondern die Kraft der gemeinsamen Entwicklung.
Wandel beginnt oft im Kleinen, bei einzelnen, die den Mut haben, unbequeme Fragen zu stellen. Welche Fragen sollten wir stellen? Sind wir bereit, sie zu stellen? Und gehen wir das Risiko nicht ein, sie zu stellen, riskieren wir dann umgekehrt unsere Zukunft?
Wie Kunst Tabus zu Chancen macht
Ein Kommentar von Elisabeth Oberreiter
Kunst ermöglicht einen direkten Zugang zu Themen und Emotionen und schafft damit Räume, in denen Bedeutendes, Heikles und gleichzeitig Wichtiges zur Sprache kommen kann. Es werden dabei eigene Sichtweisen und Positionen durch künstlerische Ausdrucksformen wie Fotografie, Malerei, Zeichnung oder Musik unbewusst und ohne die üblichen sozialen Filter zum Ausdruck gebracht. In damit verknüpften Dialogräumen werden Menschen ermutigt, die eigene Sichtweise zu hinterfragen und auch andere Positionen zu diskutieren. Auffällig dabei ist, dass die Sprache der Kunst weniger konfrontativ und bedrohlich wahrgenommen wird.
Tabus kommen damit spielerisch und mit einer gewissen Leichtigkeit auf den Tisch. Dies ermöglicht ehrliche und tiefe Einsichten, die ein direktes Gespräch so nie schaffen würde. Unausgesprochenes wird durch die Sprache der Kunst besprechbar. Unsicherheiten werden zugelassen und als gemeinsames Entwicklungsfeld genutzt.
Achtsam begleitet kann Kunst somit Tabus als Chance für Transformation und Entwicklung nutzen – und ist so auch eine Möglichkeit, an der Unternehmenskultur zu arbeiten.
Am 24butterfly-Festival habe ich mit meinen Kolleg:innen Eva Maurerbaur und Michael Auinger die Kraft der Kunst zum Tabubruch auf die Bühne gebracht (siehe QR Code).