Wilfried Vyslozil macht sich über die Fülle an Anforderungen Gedanken, und darüber, wo Platz für Innovation und Eigenverantwortung bleibt.
Lieferkettenprobleme, stockende Globalisierung, offene Compliance Fragen, regionale Konflikte, Klimawandel, Mängel im Bildungssystem: Der aktuelle, ziemlich „losig“ gewordene Kontext schreit geradezu nach Verantwortung.
Welche Prinzipien sind es, die Responsible Leadership bestimmen sollen? Wie gut kann das gelingen? Bleibt Raum für Innovation angesichts der Fülle von Anforderungen durch Compliance und Correctness?
Führungskräfte sind Menschen – Punkt. Entsprechend bemüht-rational entscheiden wir und sind doch im Hintergrund emotional geprägt. Wir handeln als individuelle Persönlichkeit, wir handeln in Gruppen, wir handeln im Rahmen von Strukturen. Und wir führen ein Unternehmen im dynamischen Austausch mit seinen wichtigsten Stakeholder:innen.
Diese Vielschichtigkeit bietet uns ununterbrochen Begegnungen mit Erwartungen, Standards, Normen unserer Stakeholder:innen, unseres Unternehmens, unserer internen Gruppen und unserer eigenen Persönlichkeit. Es sieht nach Nirvana aus. Zoomen wir deshalb etwas näher hinein.
Drang zur Regulatorik vs. Innovation
Ja, die Verantwortung beginnt beim Formalen. Arbeitsrecht, Konsumenten- und Datenschutz, Handelsrecht, Strafrecht, … In diesen fundamentalen Normen herrscht in Europa keine „Losigkeit“, eher ein Drang zu mehr Regulatorik. Globale Standards wie die SDGs kommen noch obendrauf. Compliance-Fachleute haben gute Konjunktur und entlasten die Führungskräfte – diese verbleiben dann aber nicht nur „in der Verantwortung“ (responsible), sie sind auch „rechenschaftspflichtig“ (accountable), notfalls vor Gericht. Ohne dies auch nur im Geringsten schmälern zu wollen: Wer hochverdient jeder Compliance korrekt entspricht, ist deshalb noch lange nicht innovativ und erfolgreich am Markt. Denn die Logik der Innovation besteht ja darin, die Dinge völlig anders zu sehen und sich dabei über tradierte Standards und Normen hinwegzusetzen. Lassen wir das mal als Dilemma Nr. 1 stehen.
Erwartungen im Widerspruch
Unser Zoom findet in der nächsten Ebene ein Füllhorn von Standards, die unsere Stakeholder:innen an uns richten. Und nicht selten sind das widersprüchliche Erwartungen, was deren Einordnung und Priorisierung schon nahe an Losigkeit/Unübersichtlichkeit rückt. Wie objektivierbar ist Qualität? Wie objektivierbar ist Transparenz? Wie objektivierbar ist Impact? Als Führungskräfte gehen wir den schmalen Grat in der Verantwortung, zwischen den Ansprüchen von Investor:innen, Kundengruppen, Mitarbeitenden, Medien zu „mitteln“ – wir haben also bewusst eine Auswahl und Priorisierung vorzunehmen. Hier kommen wir nun deutlich mit unserer persönlichen, subjektiven Einschätzung ins Spiel – das Ganze soll ja mit Evidenz darstellbar und verlässlich wirken: Dilemma Nr. 2.
Wo ist meine persönliche Verantwortung?
Final zeigt das Zoom auf die individuelle Führungskraft, auf mich. Wo genau ist jenseits meiner Zuständigkeit auch meine persönliche Verantwortung? Wozu kann ich uneingeschränkt Ja sagen, oder noch klarer: Welche Prinzipien und Werte steuern meine Entscheidungen? Sind sie mir ausreichend bewusst und kommen sie auch explizit im Unternehmen an? Und sind mir auch meine roten Linien so bewusst, sodass ich sie kommunizieren kann? Lässt es mein Selbstbild zu, anzuerkennen, dass mein Verhalten jenseits von Kognition und Human Intelligence (HI) auch von anderen Dynamiken angestoßen wird? Da gibt es viel zu entdecken, was im Laufe der Zeit tief internalisiert und somit wenig reflektiert auf das Wahrnehmen meiner Verantwortung einwirkt. Habe ich dafür die nötige Energie und Sorgfalt? Das ist Dilemma Nr. 3.
Individuell bewusst machen, gemeinsam ordnen
Resümee: Wenn Orientierung gebende gesellschaftliche Standards und Normen tatsächlich aufweichen und eine Losigkeit Platz greift, ist es umso wichtiger, sich auf Prinzipien in kritischen Momenten der Führung zu besinnen. Formale Gesetze, internationale Standards, Stakeholder:innen-Erwartungen spannen einen enormen Handlungsrahmen auf, den man sich zwar individuell bewusst machen muss, aber nur gemeinsam ordnen und priorisieren kann. Dabei folgen oder entwickeln wir Prinzipien, die letztlich mit unserem Selbst zu vereinbaren sind.
Die Losigkeit zu überwinden ist Eigen-Verantwortung.
Wilfried Vyslozil wechselte nach acht Jahren Forschung, Lehre und Beratung vor 30 Jahren in den internationalen NGO-Sektor. Von 2008-2021 war er in München als Vorstand der SOS-Kinderdörfer weltweit aktiv. Davor leitete er in Innsbruck 15 Jahre lang SOS-Kinderdorf Österreich. In seiner früheren Forschungs- und Beratungstätigkeit an der JKU Linz, in Innsbruck und Budapest lag sein Fokus auf Organizational Change.