Georg Sutter beschreibt, wie Führung und Verantwortung von neuen Kommunikationsräumen profitieren können.
Im sozialen Gefüge betrieblicher Dynamiken werden die Dinge oft zurückhaltend beim Namen genannt. Im reflektiven Dialog kann eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit hergestellt und der Tabuisierung von Beziehungsqualität und offensichtlichem Handlungsbedarf der Nährboden entzogen werden.
Im Grunde wissen alle Beteiligten, was Sache ist. Und gleichzeitig fällt es schwer, die inneren Barrieren zu überwinden und das zu sagen, was wirklich gedacht wird. Das hat viel mit der psychologischen Sicherheit der Mitarbeitenden zu tun: Können wir Risiken eingehen, ohne uns unsicher zu fühlen? Was in einem Team noch problemlos sein mag, wird in einer größeren Runde schnell zur Herausforderung: Kann ich in einer größeren Runde das fragen, was mich wirklich bewegt, ohne so zu klingen, als wäre ich der Einzige, der nicht auf dem Laufenden ist?
In der Tendenz schrecken wir davor zurück, uns auf Verhaltensweisen einzulassen, die sich negativ darauf auswirken könnten, wie andere unsere Kompetenz und unsere Haltung wahrnehmen. Obwohl diese Art des Selbstschutzes eine nachvollziehbare Strategie am Arbeitsplatz ist, ist sie effektiver Zusammenarbeit und vor allem grundlegenden Veränderungen abträglich.
Auf der anderen Seite gilt: Je sicherer sich Mitarbeitende fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie offen kommunizieren. Diese Einsicht war dann für die Mitglieder der Geschäftsleitung eines IT-Unternehmens auch Anlass genug, sich in einen (begleiteten) reflektiven Dialog mit den Fachbereichsleitenden zu begeben.
Den Elefanten sichtbar machen
Es war beeindruckend, wie messerscharf die Fachbereichsleitenden im Rahmen einer Führungskräfteentwicklungsmaßnahme bisher vernachlässigte Handlungsmöglichkeiten des Unternehmens beschrieben und wie klar sie ihrer persönlichen Befindlichkeit Ausdruck verliehen. Beides ergab eine Menge Stoff, der nach dem richtigen Adressaten suchte. Deshalb ergriffen sie die Initiative, mit ihren Vorgesetzten bzw. den Mitgliedern der Geschäftsleitung auf einer veränderten Grundlage ins Gespräch zu kommen. In einem ersten Zugang spiegelten die Fachbereichsleitenden ihren Vorgesetzten, wie sie die Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten erleben und vor allem auch wie es ihnen dabei ergeht. Diese Dialoge rüttelten die Mitglieder der Geschäftsleitung wach. Der Elefant wurde sichtbar: Was können die Führungskräfte unter den aktuellen Rahmenbedingungen wirklich leisten?! Und: Die Not der Vorgesetzten war nicht weniger deutlich als die ihrer Mitarbeitenden.
Für diese Gespräche war es hilfreich, die Fachbereichsleitenden im Rahmen eines Workshops zum Thema Selbstführung in die Praxis der wertschätzenden Kommunikation einzuführen. Thematisch hilfreich war, dass schon zuvor mit den Fachbereichsleitenden und der Geschäftsleitung anhand eines „Kulturexplorers“ erarbeitet wurde, wohin sich die Kultur der Führung und Zusammenarbeit im Sinne eines „Weg von – hin zu“ entwickeln soll. Damit war ein inhaltlicher Rahmen geschaffen, der es erlaubte, das Erleben der Alltagskultur besprechbar zu machen. Infolge wurde dann ein Tagesworkshop mit genau diesem Ziel vereinbart.
Der konzeptionelle Rahmen
Um einen Unterschied zur bisher praktizierten Gesprächskultur zu schaffen, orientierte sich der Workshop in seiner Grundausrichtung am reflektiven Dialog (siehe „Vier Gesprächsqualitäten“ nach Otto Scharmer). In diesem nehmen die Gesprächspartner:innen eine Haltung ein, in der sie ihre Perspektive äußern, die Differenzen und Unterschiede zu den Perspektiven der anderen Gesprächspartner:innen sorgfältig untersuchen und darüber hinaus immer auf einen gemeinsam geteilten Rahmen bedacht sind. Grundannahme ist, dass ein Interesse besteht, dass jede:r gute Gründe für den eigenen Standpunkt hat, die gehört und verstanden werden wollen. Was dadurch möglich ist: Menschen reagieren weniger automatisch in bestimmten, oft stabilen Mustern, agieren weniger im Verteidigungs- oder Durchsetzungsmodus und handeln sorgfältiger und nachvollziehbarer. Die Verschiebung von der Diskussion zum Dialog macht es leichter, die Sichtweise der anderen Person zu erkunden und sich ihr auf empathische Weise zu nähern. Dadurch erweitert sich die Perspektive der/des Einzelnen, sich selbst als Teil eines Gesamtsystems zu begreifen.
Vorbereitung des Dialogs
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund lagen dem Dialog-Workshop folgende Absichten und Ziele zugrunde:
- Die Führungskräfte im Unternehmen zu wesentlichen Führungs- und Zusammenarbeitsthemen vertieft ins Gespräch kommen lassen – Untersuchen & Reflektieren
- Erkenntnisse und Erfahrungen aus der laufenden Führungskräfte-Entwicklung in den konkreten Führungs- und Zusammenarbeits-Alltag übertragen – Individuelles & Kollektives Lernen
- Raum und Gelegenheit für Zuhören und Mitteilen von wesentlichen Themen im aktuellen Entwicklungsprozess des Unternehmens schaffen – Beziehungen stärken
- Vertiefen von konkreten und wichtigen Themen für den Alltag, wie z.B. Klarheit der Rollen, Priorisierung und Schwerpunktsetzung in den Aufgaben, die Bedeutung von Führung im Alltag – Anregungen für den Alltag ernten
- Vereinbarungen für die nahe Zukunft treffen – Vertrauen stärken
Zur Vorbereitung wurden jeweils ein Halbtages-Workshop mit den Fachbereichsleitenden und den Mitgliedern der Geschäftsleitung durchgeführt.
Im Vorbereitungs-Workshop mit den Fachbereichsleitenden ging es um eine persönliche Standortbestimmung, gleichsam eine Selbst-Versicherung zu Fragen wie:
- Was bedeutet für mich gute Führung? Was davon gelingt mir im Alltag? Was davon nicht?
- Was gibt mir Kraft beim Thema Führung? Was nimmt mir Kraft bei dem Thema?
Diese Selbstreflexion führt zu wichtigen individuellen Lernfeldern, ist aber zugleich Haltungsarbeit mit Blick auf das Gesamte. Dem folgte dann eine kollektive Standortbestimmung mit Fokus auf das Führungs- und Werteverständnis sowie die Identifizierung von Themen, die die Fachbereichsleitenden bewegen.
Mit ähnlicher Ausrichtung erfolgt der Vorbereitungsworkshop mit der Geschäftsleitung. Dabei ging es u.a. um:
- Weiterarbeiten am gemeinsamen Verständnis von Führung: Was wollen wir? was brauchen wir? Wozu sind wir selbst bereit? Welches Führungsverhalten bieten wir (als Role Models) an?
- Themen der Führung und der Veränderung: Was beschäftigt uns und was beschäftigt unsere Führungskräfte? Wie wollen wir damit im Alltag umgehen?
Der gemeinsame Dialog
Der Dialog entwickelte sich entlang der folgenden Schritte:
- Ich und Führung: persönlicher Erfahrungsaustausch zwischen allen beteiligten Führungskräften zu wesentlichen Führungsthemen und Erfahrungen – in Kontakt kommen:
– Was waren dieses Jahr meine persönlichen Führungsgeschichten
(Höhen und Tiefen)?
– Wo bin ich wirksam? Wo komme ich an meine Grenzen? Was zieht mich?- Führung und Wir: Wesentliche Themen für den gemeinsamen Dialog identifizieren und priorisieren – wechselseitiges Mitteilen der Anliegen:
– Wie ernst ist uns das?
– Was wollen wir wirklich?
– Was braucht es aktuell besonders?- Welches (wertebasierte) Führungsverständnis trägt uns gemeinsam in der Bewegung „Weg von – hin zu“ und wo liegen unsere Entwicklungsthemen?
– Was hindert uns aktuell daran, dass wir einen Schritt weiterkommen? Was passiert, wenn nichts passiert (Muster)?
– Was wollen wir diesbezüglich (gemeinsam oder unterschiedlich)?
– Welchen „Preis“ müssten wir zahlen für einen nächsten Entwicklungsschritt? Wollen wir das?- Explorieren der wesentlichen Themenstellungen und Fragen:
– Wo liegt in der Bearbeitung dieser Frage/dieses Themas die meiste Kraft? Was nimmt uns die meiste Kraft? Was könnte ein guter „Move“ in Richtung Zukunft sein?- Gemeinsame „Ernte“:
– Was bewegt uns (positiv und negativ)?
– Was wollen wir weitertragen?
– Im Umgang mit Spannungen: Was ist gelungen und was weniger? Was sind Lernthemen für uns als Führungs-Community?- Transfer in die Geschäftsbereiche – Intention und kleine Schritte für den Alltag:
– Was bedeutet das „Ganze“ für mich und uns? Wo liegt die meiste Kraft für die Zukunft? Was kristallisiert sich heraus?
– Was wollen wir säen? Was können wir ernten?
– Wie nähren wir unsere Einsichten/ Absichten?
Ein neues Selbstverständnis
Die Erfahrungen aus diesem Dialog ermutigten die Führungskräfte, für die Folgemonate Kommunikationsräume zu initiieren, die im Geist der Verbundenheit genutzt wurden (und noch immer werden). Das, was derzeit entsteht, ist ein Selbstverständnis, durch das jenseits von Hierarchien eine Führungs-Community aus einer Gesamtverantwortung heraus Spannungen in Lösungen überführen kann. Darum geht es letztlich: Aus einem reflektiven Dialog heraus hilfreiche Kommunikationsräume im Alltag zu etablieren, in denen mit neuer Offenheit über das gesprochen wird, um was es eigentlich geht.