Die inzwischen mit großer Intensität geführte Diskussion um „Agilität“ als eine Antwort auf VUKA legt offen: Keine Hierarchie der Welt ist in der Lage, die zunehmende Dynamik und Komplexität zu meistern.
Wir sollten nicht mehr länger darum herumreden. „Agilität“ ist ein Mindset – kein Prozess und kein Werkzeug. Es geht um eine grundlegende Haltungsfrage, beschrieben durch Werte, hinterlegt durch Prinzipien, die sich dann erst in einer Vielzahl von Managementpraktiken, Prozessen und letztlich Methoden konkretisieren.1
Damit ist klar: Die Antwort auf VUKA wird nur gelingen, wenn der Fokus auf den Menschen als Dreh- und Angelpunkt einer agilen Organisation gerichtet wird. Selbstverantwortung ist also gefragt! Und das vor allem von Mitarbeiter/innen, für die die demotivierende Natur hierarchischer Organisationen und übergreifender Unterstützungsfunktionen eine alltägliche Erfahrung ist. Der weitverbreitete Mangel an Motivation ist ein teurer Nebeneffekt der ungleichen Machtverteilung. Damit wird offensichtlich: Die Diskussion um Selbstorganisation trifft im Kern auf das hierarchische Prinzip.
Auf den Punkt gebracht: Dreht sich weiterhin alles um die Organisation? Wird auch künftig in den „Pyramiden“ und den damit verbundenen hierarchischen Prinzipien der Nukleus des Unternehmenserfolges verankert? Oder machen wir endlich ernst damit, dass sich alles auf den Kunden zu fokussieren, d.h. die Organisation um den Kunden zu „kreisen“ hat?!
Wozu haben Unternehmen eine Struktur?
Mit der Veränderung vom Verkäufermarkt hin zu einem Käufermarkt kann der letztendliche Sinn von Strukturen nur darin liegen, Kundenbedürfnisse zu befriedigen, für die der Kunde auch bezahlt. Es sollten dementsprechend „Strukturen“ und „Wissen“ zur Verfügung gestellt werden, damit das Kundenversprechen eingelöst werden kann. Schon heute passen viele strukturelle Routinen nicht mehr zum Problem des Kunden. Strukturen und Prozesse sollten Wertschöpfungsprozesse ermöglichen, für die es keine Routine, kein Wissen gibt. Dazu braucht es höchst eigenständige Mitarbeiter/innen, die selbst auf Ideen kommen und die Kundenbeziehung gestalten.
Wie viel Struktur braucht es dann noch?
Meetings, Briefings, Reports, usw. Kein Zweifel – Mitarbeiter/innen verbringen Zeit mit Dingen, die sie als sinnlos empfinden. Sie müssen sich ständig zwischen Kunden und internen Strukturerfordernissen bzw. hierarchischen Anweisungen entscheiden. Letztlich haben sie zu wenig Zeit für die Arbeit mit Kunden.
Es stellt sich also die Frage, wie viel Struktur es braucht, um den eigentlichen Geschäftszweck zu erfüllen. Eigentlich müssten wir uns nur fragen: Wo hakt es in der Wertschöpfung? Was hält die Leute vom wirkungsvollen Arbeiten ab? Unser Ansatz ist also ein Plädoyer dafür, Wertschöpfungshygiene zu betreiben. Denn Mitarbeiter/innen und Kultur entwickeln sich selbst.2
Was ist zu tun?
Dazu muss man nicht sofort radikale Schnitte machen und z.B. die Führungskräfte abschaffen oder die Gehaltsfestlegung in die Hände der Mitarbeiter/ innen legen. Das kann, muss aber nicht am Ende herauskommen. Was schon Sinn macht: die Realität von Organisationen zu durchdenken. über Jahrzehnte sind viele Strukturelemente entstanden, die Mitarbeiter/innen beschäftigen, aber nichts zur Wertschöpfung beitragen. Was es braucht, ist eine Inventur der gängigen Praktiken wie z.B. Arbeitszeiterfassung, Assessment Center, Betriebliches Vorschlagswesen, Budgetprozesse, Parkplatzregelung, Reporting, Abteilungsmeetings, Prämienregelung, Zielvereinbarungen, Organigramme, Mitarbeiterbeurteilung, Reiserichtlinien, Stellenbeschreibungen, überstundenregelung, Unter- schriftenregelung, Urlaubsregelung, Dienstanweisungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Es gilt alle im Unternehmen etablierten Strukturelemente durchzugehen und zu prüfen, ob sie dazu beitragen, die Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Was hilft dem Unternehmen wirklich wertschöpfungsmäßig? Was dabei herauskommen könnte, sind z.B. ein anderes Führungsverständnis, stark reduzierte Unterstützungsfunktionen, deutlich weniger fruchtlose Besprechungen, radikal vereinfachtes, flexibles Projektmanagement, eigenverantwortete Stellenprofile und Ziele, Entscheidungsfindung als individuell verantworteter Beratungsprozess, re- duzierte Reportingstrukturen, Konfliktlösung in der Verantwortung der Betroffenen, Leistungsmanagement auf Team- und individueller Ebene, Vergütung und Anreize als teambezogener Aushandlungsprozess oder auch teamverantwortete Mitarbeitergewinnung.
Selbstorganisation hat nichts mit Beliebigkeit oder Willkür zu tun. Im Gegenteil: Damit Selbstorganisation überhaupt wirksam werden kann, braucht es einen gemeinsamen „Sinn“, die Verbindlichkeit von Prinzipien, Rollenklarheit, vereinbarte Regeln und schließlich die Selbstorganisationsreife aller Beteiligten. Eine Kultur gelebter Selbststeuerung kann man aber auch nicht „einfach machen“. Führung kann jedoch dafür sorgen, dass alle Beteiligten einer Organisation in einen Ausei- nandersetzungsprozess über das eintreten, was im Alltag Wirkung erzeugt. Im Interesse einer wertschöpfenden Kultur sollten wir Selbstverantwortung ernst nehmen und uns auf den Weg machen, uns gegenseitig, Führungskräfte und Mitarbeiter/innen, in das Vertrauen einzuüben, in das Vertrauen, dass der andere das Richtige tut und die Aufgaben richtig erledigen wird. Nur wo Vertrauen wächst, hat Selbststeuerung eine Chance.