Die Quelle von Leadership im Zeichen der Agilität
In zahlreichen Veröffentlichungen zur agilen Organisation wird Agilität in erster Linie auf der Tool-Ebene und damit unter der Management-Perspektive abgehandelt. Nach der Anfangseuphorie wird nun aber offensichtlich, dass wirksame Veränderung nicht mit den Tools beginnt, sondern zunächst und vor allem mit einem Shift in der Haltung der Beteiligten zu tun hat. Leadership ist gefragt!
Die Erfolgswahrscheinlichkeit von Transformationsprozessen ist dort sehr hoch, wo sich Führungskräfte in ihren Leadership-Qualitäten weiterentwickeln. Führungskräfte sind herausgefordert, in kritischer Distanz zu sich selbst tretend Teil der angestrebten Transformation zu werden. Selbstführung ist gefordert, um so glaubhaft das Notwendige einfordern und anstoßen zu können. Dieser Anspruch folgt der Erfahrung, dass letztlich nur derjenige wirksam führen kann, der in der Lage ist, sich selbst zu führen.
Woran mangelt es in der derzeitigen Leadership-Praxis?!
Der auffallendste Befund ist nach wie vor das überraschend geringe Wissen über die eigene Person. Wie wirke ich wirklich? Was sind letztlich die Motive für mein Verhalten und Handeln? Welche inneren Kompromisse oder auch Unehrlichkeiten lasse ich im Alltag zu?
Vielen Führungskräften fehlt die Wertschätzung und Aufmerksamkeit für das eigene Leadership-Vermögen und -Handeln. Was bewirken meine gesprochenen Sätze? Welche enorme Hebelkraft liegt in dem von mir gezeigten Führungsverhalten? Wo bin ich Modell für das, was ich einfordere?
Der Fokus von Leadership liegt oft zu sehr auf Individualisierung und Trennung und deutlich zu wenig auf der Verbundenheit der unterschiedlichen Artefakte und handelnden Personen. Wie kann ich die Verbundenheit zwischen den unterschiedlichen Verantwortungsträgern fördern? Wie kann der Blick für das Gesamte selbstverständlich werden?
Oft mangelt es an der Einbindung des Unternehmensgeschehens in den gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext. Welche Interdependenzen bestehen zwischen der eigenen Organisation und den vielfältigen Entwicklungen im Markt bzw. im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld?
Viel zu wenig Wert wird auf das gemeinschaftliche „Wofür“ des Unternehmens oder auch einzelner Maßnahmen gelegt. Wofür gibt es uns? Was ist unsere Existenzberechtigung, unser Leistungsversprechen? Wie kann der/die Einzelne seinen/ihren persönlichen Sinn mit dem der Organisation abgleichen?
Führungskräften fehlt oft auch die Einsicht in den Wert sozialer Architekturen, die geeignet sind, Veränderungen mit sichtbaren und spürbaren Unterschieden zu ermöglichen. Welche Kommunikationsräume sind begleitend sinnvoll? Wie wird die Kraft des Sozialen für sinnerfülltes Wirken genutzt?
Die Quelle von Leadership im Zeichen der Agilität
Es braucht die Auseinandersetzung auf der Haltungsebene, d.h. das Bewusstsein für Werte, Überzeugungen und Prinzipien zu schaffen, die implizit unserem Verhalten und Handeln zugrunde liegen. Glaubwürdiges Leading bedeutet daher für eine Führungskraft, der Frage nach der eigentlichen Quelle ihrer Führungshaltung nachzugehen.
Diese Fähigkeit, einen Zugang zur eigenen Quelle des Führens zu finden, macht den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern. Im Kern geht es um die Selbstvergewisserung darüber, mit welcher Absicht und Aufmerksamkeit die jeweils aktuelle Situation beobachtet und wie ihr unmittelbar begegnet wird. Letztlich hängt Erfolg davon ab, von welchem „inneren Raum“ aus, mit welcher inneren Klarheit eine Führungskraft auf ihren Verantwortungsbereich einwirkt. Dieses Vermögen bildet die Grundlage für eine neue Form der Innovation und Wertschöpfung. Aus ihm erwächst auch die (neue) Befähigung, ein Gespür für die sich zeigende Zukunft zu entwickeln und diese Einsichten dann auch im Handeln wirksam werden zu lassen.
Das skizzierte Leadership-Verständnis mündet in ein Leadership-Konzept[i], in dem die Führungskraft in ihrer inneren Entwicklung gefordert ist. Keinen Platz darin hat der selbst-zentrierte Leader, der, mit einem Mangel an Integrität nahezu ausschließlich vom eigenen Willen getrieben, unberechenbar die eigene Positionierung fokussiert. Angesichts der heutigen Anforderungen wird aber auch ein bloß ziel-fokussierter Leader wirkungslos bleiben. Für ihn sind zwar Stabilität durch Regeln wichtige Prinzipien, durchaus verbunden mit Fairness und Respekt gegenüber dem Wertbeitrag anderer und deren Entwicklung. Das reicht aber bei weitem nicht mehr aus.
Gefordert sind Leadership-Qualitäten im Sinne des dienenden Leaders, der dem dient, das deutlich über die eigenen persönlichen Ambitionen hinausweist. In einer Welt der Beziehungen, wo Verbundenheit zu einem organisationalen Prinzip geworden ist, macht es Sinn, den Fokus weg von der eigenen Person oder der einseitigen Betrachtung formaler Ziele auf das Beziehungsgeflecht zu richten. Dies umso mehr, als von ihm die eigentlichen Impulse für die Bewältigung der VUKA-Faktoren ausgehen. Komplexität ist eben nicht mit auf Kompliziertheit ausgerichteten Methoden zu bewältigen, sondern bedarf vielmehr der Nutzung des Potenzials der ebenfalls komplexen zwischenmenschlichen Beziehungen.
Die Qualitäten eines dienenden Leaders sind und bleiben wichtig. Allerdings bedarf es deren Weiterentwicklung hin zum selbstverantworteten Leader. Es geht zusätzlich um ein Vermögen, das im Kern wichtige Potenziale birgt: bahnbrechendes Denken, strategischer Weitblick, Blick für operative Exzellenz und Innovation inklusive der Fähigkeit, Zukunftsbilder für die Organisation bzw. darüber hinaus für die Gesellschaft zu entwickeln. Diese Leader sind getragen von der Überzeugung, dass es einen höheren Sinn gibt, aus dem heraus die Organisation aufgerufen ist, die Zukunft zur Entfaltung zu bringen. Sie kombinieren analytische, erfahrungsbasierte Erkenntnisse und Einsichten mit einem starken inneren Wissen, wie die Unternehmenswirklichkeit gestaltet werden könnte.
Selbstverantwortetes Leadership im Führungsalltag
Letztlich geht es darum, die Entwicklung neuer Lebens- und Unternehmenswirklichkeiten zu ermöglichen – aus der Überzeugung, dass die künftige Unternehmenswirklichkeit aus der Qualität der Beziehungen erwächst. Erst auf der Grundlage dieses fundamentalen Wechsels im Verständnis von Beziehungen wird die Aufforderung zur Partizipation und Selbstverantwortung, dem Kern jeglicher Verantwortung, überhaupt lebbar. Selbstverantwortung erfordert Leadership mehr denn je, geht es doch darum, im Unternehmen den kollektiven Willen zu entfachen, die bisherigen Glaubenssätze und Verhaltensgewohnheiten zu verändern und zu lernen, wie die Zukunft als Feld der Möglichkeiten zu gestalten ist.
Führungskräfte sind dabei gefordert, mit offenem Verstand, einem offenen Herz, schließlich mit freiem, begründeten Willen, d.h. letztlich aus ihrem Menschsein und ihrer Würde heraus ihre eigenen Führungs-Quellen ins Handeln zu übersetzen – und zwar nicht als Selbstzweck, sondern mit der Intention, mutig voranzugehen und die Türen aufzustoßen, damit andere gerne folgen können.
So verstandenes selbstverantwortetes Leadership wirkt als Katalysator für tiefgreifende Veränderung. Geleitet von Werten und Qualitäten wie Menschlichkeit, Inspiration, Aufrichtigkeit, Loyalität, Anstand, Ehrlichkeit, Zuversicht und einem gesunden Menschenverstand konkretisiert es sich als kollektives Zuhören und Beobachten dessen, was sich als Wissen für die Zukunft zeigen will, um dann mutig das zu tun, zu dem die jeweilige Situation auffordert. Selbstverantwortetes Leadership stärkt Führende und Geführte in ihrem Menschsein.
Praktische Ansatzpunkte für selbstverantwortetes Leadership
- Vertrauen – Zutrauen – Trauen: den Menschen und der Sache mit Leidenschaft und Herz dienen, mit einem Höchstmaß an eingeübtem Vertrauen die Mitarbeitenden einladen, einbinden, ermutigen, inspirieren und in ihrem Erfolg unterstützen, Transparenz und Feedbackqualität
- Eröffnen und Zulassen von Möglichkeiten: das Denken in Alternativen und Potenzialen unterstützen, die MA an der Entwicklung der Zukunft so beteiligen, dass diese sich als Teil der Zukunft in der Gegenwart erleben können; ermutigen und inspirieren, MA die Aktivitäten bestimmen lassen, damit aus dem Buzzword Selbstverantwortung gelebte Wirklichkeit wird; Ansätze wie Design Thinking, Scrum, auch die Einrichtung von Future Labs etc.
- Beobachten und Zuhören: wahrnehmendes urteilsfreies Beobachten und Zuhören, sich mit voller Aufmerksamkeit dem Gegenüber zuwenden, dadurch den anderen darin befähigen, eigene Gedanken zu entwickeln, sich selbst auszudrücken und sicherer in dem zu werden, was er zu sagen hat
- Beziehungsqualität ermöglichen: Transparenz, Stärkung und Offenheit der Beziehungsvielfalt im Unternehmen; Gesprächsräume und –anlässe schaffen; z.B. der Bohm´sche Dialog oder die Moderationsmethode Dynamic Facilitation, wo jeweils gerade in spannungsgeladener Atmosphäre die Kraft der Beziehungen für gemeinsam getragene Lösungen wirksam wird
- Verbundenheit im Team stärken: Erfahrung von Ganzheit und sinnvolle Beiträge zu etwas Größerem ermöglichen, als Teil eines Teams; dafür hilfreich: radikale Veränderung der Belohnungssysteme und Neuordnung der Hierarchie- und Arbeitsprozesse
- Die Kraft aus Purpose und Vision zur Entfaltung bringen: durch die Kraft des Sinns und des Zukunftsbildes Berge versetzen; den Mitarbeitenden Sinnfindung und Visionsentwicklung ermöglichen als vornehmste Führungsaufgabe
[i] in Anlehnung an Joseph Jaworski, Source (2012), S. 62 ff.