Eine Welt voller Experten
Experten für Angewandte Stochastik, Experten für Aufkleber, Experten für Einkaufszettel, Experten für Themengebiete, Experten für den Weg zurück, Experten für Belange von Menschen, Experten für die Gefühlswelt, Experten für sich selbst, Experten für Haarausfall, Experten für krause Ideen, Experten für weltweite Risikolösungen. Ja sogar Experten für Wunder.
Sie schütteln den Kopf? Ich darf Sie beruhigen. Das sind noch nicht einmal die kuriosesten Ergebnisse für die Internet-Suchanfrage „Experte für …“. Über 1,8 Millionen Einträge verzeichnet Google bei einem derartigen Research. Allein im Monat März wurde über eine halbe Million Mal in der Suchmaschine nach „Experten“ gesucht. Die ersten Experten beginnen gerade damit, dem Begriff „Experte“ tunlichst aus dem Wege zu gehen. Sie nennen sich Spezialisten, Kenner, Autoritäten oder Koryphäen. Man hat den Eindruck, die Welt quillt über vor Experten. Bei genauer Betrachtung muss die Botschaft allerdings lauten: „Und es werden täglich mehr!“ Warum ist das so?
From picks to bricks to clicks
12.000 Jahre lang waren die Menschen bevorzugt Rohstoffgewinner in einer Agrargesellschaft. Der rasante Wandel hat erst vor zweihundert Jahren eingesetzt. Zunächst mit der Industrialisierung und der maschinellen Rohstoffverarbeitung. Seit rund 60 Jahren werden wir von der Digitalisierung beflügelt und haben uns zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Ob der Begriff „Informationsgesellschaft“ in Anbetracht der Unmenge an „Desinformation“ angemessen ist, soll hier nicht weiter beschäftigen.
Fest steht: der dritte Sektor wächst. Und das schneller als dies der französische Ökonom Jean Fourastié in seiner Drei-Sektoren-Hypothese prognostiziert hat.
Im Jahr 2014 haben in den „Frühindustrialisierten Ländern“ 75 % der Beschäftigten ihr Geld mit Dienstleistung verdient. Drei Viertel haben also keine Güter erzeugt sondern nicht greifbare, immaterielle Arbeitsleistungen erbracht. 40 Jahre früher als von Fourastié prognostiziert. Die wichtigsten Produktionsfaktoren sind nicht mehr Grund und Boden, nicht mehr die Maschinen, sondern das Know-how. Das notwendige Werkzeug ist nicht mehr die Spitzhacke, die Struktur ist nicht mehr der industrielle Ziegelbau. Mit durchschnittlich 30 Clicks im Netz ist beinah jede Auskunft erteilt. Fragt sich nur wie?
Die Produktion des Wissens
Im Jahr 1963 erschien das Buch „Little Science, Big Science“ des angloamerikanischen Wissenschaftshistorikers Derek de Solla Price. Darin beschreibt er zum ersten Mal das Phänomen der „Wissensproduktion“. Als Indikator verwendet de Solla Price die Anzahl der Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften. Sein Ergebnis: Wissen wächst exponentiell und verdoppelt sich alle 15 Jahre. Aktuelle Messungen – wenngleich der Begriff „Messung“ hier durchaus kritisch zu sehen ist – gehen von einer Verdoppelung alle fünf bis sieben Jahre aus. Parameter, die dabei zur Anwendung kommen, sind Patente, Erfindungen, das Wachstum an gespeicherten Daten sowie die im World Wide Web verfügbare Information. Ein weiterer Indikator, der die Beschäftigten als Basis heranzieht, geht davon aus, dass sich die Anzahl der Menschen mit einer wissenschaftlich-technischen Ausbildung von 1950 bis zum Jahr 2000 von 10 Millionen auf über 100 Millionen mehr als verzehnfacht hat. Tendenz steigend. Auch die enorme Zunahme an Literatur zum Thema „Wissensmanagement“ belegt diesen Trend. Was heißt das für Unternehmen gleichermaßen wie für uns als Menschen?
Klavier oder Cello
Unerheblich ist die Diskussion um die genaue Wachstumsgeschwindigkeit. Dies deshalb, weil niemand von uns sein Wissen in drei, fünf oder sieben Jahren verdoppeln kann. Deshalb hat sich mehr und mehr eine Bewältigungsstrategie herausgebildet: Spezialisierung.
Eine in mehrfacher Hinsicht unvernünftige Frage. Nicht zuletzt deshalb, weil es ein Konzert von Conchita Wurst war, in dem die beiden saßen.
Niemand kann gleichzeitig auf dem Klavier, auf dem Cello und auf der Violine Spitzenleistungen erbringen. Dasselbe gilt für alle anderen Dienstleistungsbereiche. Vielmehr ist es sogar so, dass sich die wahren Experten nicht nur auf ein Werkzeug, sondern auch auf ein Genre konzentrieren. Spezialisierung ist kein Trend. Spezialisierung ist ein Mindset. Allrounder mögen die Nischen kennen, aber sie dringen nicht in diese vor. Spezialisten fokussieren sich. Entwickeln neue Lösungen, neue Produkte. Zeigen Höchstleistungen. Warum soll dies nur in der Musik so sein? Warum sollen ausgerechnet Wissensarbeiter davon ausgenommen sein? Das enorme Wissenswachstum macht es unumgänglich sich die Nische zu suchen und aus dieser heraus zu glänzen. Dazu braucht es aber Verbündete.
Die PayPal-Mafia
2007 erscheint im „Fortune Magazine“ ein Artikel. Darin werden die Gründer des 1998 von Peter Thiel in Palo Alto, Kalifornien, aus der Taufe gehobenen Bezahldienstes, als „PayPal-Mafia“ bezeichnet. Der Name ist eine Anspielung auf die eingeschworene Gemeinschaft und den enormen wirtschaftlichen Erfolg des Startup-Unternehmens. Vier Jahre später wird PayPal um 1,5 Milliarden US-Dollar an eBay verkauft. Fast schon ein Märchen. Die Namen der Mitglieder dieser PayPal-Mafia lesen sich wie das Who-is-Who der New Economy: Steve Chen und Chad Hurley, die späteren Gründer von YouTube. Reid Hoffman, Mitbegründer von LinkedIn. Elon Musk, Gründer von Tesla Motors, und SpaceX. Um nur einige zu nennen. Wissen wächst exponentiell und damit die Notwendigkeit arbeitsteilig vorzugehen. Am besten in perfekt eingespielten Gemeinschaften, die von ihrer Sache überzeugt sind.
Die Zeit der egoistischen Einzelentscheider ist vorbei. Das Phänomen der Ungleichverteilung des Know-hows zwischen Experten und Kunden – auch Informationsasymmetrie genannt – ist längst bei den Experten selbst angekommen. Die Wissensexplosion bringt es mit sich, dass sich das Know-how auch zwischen den Experten asymmetrisch verteilt. Das verlangt nach Ko-Kompetenz.
Mehr als ein Team
Vielleicht waren Sie schon einmal in einem Zirkus und haben fasziniert den Meisterleistungen einer Artistengruppe zugesehen. Waren beeindruckt davon, wie ihre Körper, auf die Sekunde abgestimmt, die kompliziertesten Bewegungsabläufe beherrschen. Bei solch einem Schauspiel kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Akrobaten seien sogar in Gedanken miteinander verbunden.
Oder Sie haben schon einmal für eine Sportmannschaft die Daumen gedrückt, die durch ihr Kombinationsspiel den Gegner blass aussehen hat lassen. Beispiele, die unsere Bewunderung hervorrufen. Formen der Zusammenarbeit, die mehr sind als nur Ko-Produktion. Mehr als nur Ko-Ordination. Und mehr als nur Ko-Operation. Arten der Zusammenarbeit, die auch mehr sind als konventionelle Teamarbeit. Solche Formen ko-kompetenten Zusammenwirkens entstehen nicht dadurch, dass einzelne Mitarbeitende hin und wieder Fortbildungen in Anspruch nehmen oder Kongresse besuchen. In einer Organisationseinheit zusammenarbeiten oder in ein und demselben Unternehmen beschäftigt sind. Dazu braucht es schon ein bisschen mehr als das.
Ko-Kompetenz
Das dynamische Wissenswachstum, verlangt den Individuen neue Eignungen und den Unternehmen neue Organisationsformen ab. Die Entwicklung von Fähigkeiten, die dabei unterstützen, auf dem ruhelosen Wissensteppich nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ko-kompetente Systeme sind nur bedingt dauerhafte Strukturen, wie sie Unternehmen bislang waren. Größtenteils werden es ergebnisorientierte Flechtwerke sein, die mit der Zielsetzung entstehen und gemeinsam mit der Zielerreichung wieder zerfallen können. Zweifelsohne stellt dies einen gewöhnungsbedürftigen Gedanken dar. Um solche Know-how-basierten Organisationen erfolgreich zu machen, braucht es aber ganz neue Wirksamkeiten. Für Menschen und für Unternehmen. Was uns im Besonderen herausfordern wird, ist die Tatsache, dass ko-kompetente Systeme nicht an den Unternehmensgrenzen halt machen. Wissen wächst exponentiell. Unternehmen nicht. Was könnten solche Kompetenzen sein, die in ihrer Verknüpfung Ko-Kompetenz ausmachen?
>> Experten-Kompetenz – Fachliche Fokussierung ist unumgänglich. Mit all ihren Vor- und Nachteilen. Expertenwissen basiert auf einem breiten Grundstock. Die Subspezialisierung selber ist idealerweise abgesichert und beweisbasiert. Durch diese fachliche Konzentration erwerben Experten Selbstvertrauen, also das fundierte Vertrauen in die eigene (Urteils-)Fähigkeit.
>> Wagnis-Kompetenz – Im Zusammenhang mit dem richtigen Verhalten in ko-kompetenten Systemen wird Risikobereitschaft mit Kalkül eine ganz wesentliche Befähigung darstellen. Der Mut, neue Wege zu wagen und konventionelle Denkmodelle zu verlassen. Um dies tun zu können, bedarf es ausreichender Kreativität. Rulebreaker zu sein gilt also nicht nur für das Unternehmen. Den Mut zur Unkonventionalität braucht es auch auf der individuellen Ebene.
>> System-Kompetenz – Zum einen bedarf es einer ausreichenden Kenntnis über den Aufbau ko-kompetenter Systeme. Zum anderen den Blick über den Wissensteppich und das Verständnis dafür, wo welche Wissensträger zu finden und mit welchem Know-how diese ausgestattet sind. Solche Systeme gilt es zu pflegen. Dabei ist im Besonderen daran zu denken, dass Wissen nicht seriell wandert, sondern sich durch teilen verbreitet. Innerhalb ko-kompetenter Systeme gilt es, mit Wissen um sich zu werfen.
>> Teilhabe-Kompetenz – Darunter verstehen wir die Fähigkeit, sich am Wissensteppich ohne Argwohn zu bewegen. Die Bereitschaft des wechselseitigen Gebens und Nehmens von Know-how fußt auf dem Grundprinzip des Vertrauens. Dieses Vertrauen stellt die Grundlage dafür dar, auch ausreichend kritisches Reflexionsvermögen zu entwickeln. Der Wissensteppich ist in ständiger Bewegung und die Experten bewegen sich mit. Andere Wissensträger weben neue Kenntnisse in den Teppich ein, die das bisherige Know-how erweitern, verändern, ja sogar stören oder ihm widersprechen. Umso wichtiger ist es, über diese Einflüsse einen offenen und kritischen Diskurs führen zu können. Das bedarf einer dementsprechenden Haltung und Konfrontationsfähigkeit. Wenn das fehlt, fehlt es auch an der Fähigkeit, krisenbehaftete Situationen zu meistern.
Solche Fähigkeiten und die dazu notwendigen Tools gilt es zu entwickeln, um den neuen Herausforderungen mit ko-kompetenten Systemen erfolgreich zu begegnen.