Hierarchische Strukturen und Managementpraktiken auf dem Prüfstand (Teil 2)
Der Begriff der Verantwortung suggeriert eine klare, individuelle Zurechnung von Handlungsfolgen. Angesichts der in den meisten Organisationen vorherrschenden etablierten hierarchischen Strukturen und der im Kern dem Geist von „oben nach unten“ geprägten Managementpraktiken ist das Konzept einer individualisierten Selbstführung nicht nur eine Überforderung, sondern sogar ein gefährlicher Unsinn.
Deshalb wurden im letzten INOVATOR unter dem Titel „Wagnis Selbstverantwortung“ die Konsequenzen einer Hinwendung zu dem für agile Organisationen wesentlichen Prinzip der Selbstverantwortung diskutiert. Dort wurde auch gefordert, die gängigen Managementpraktiken auf ihre Verträglichkeit mit dem Prinzip der Selbstführung zu hinterfragen.1
Keine Hierarchie der Welt ist in der Lage, die „Dynaxity“ zu bewältigen!
Die im Artikel beschriebene Kollision zwischen dem Prinzip der Selbstführung und dem klassischen hierarchischen Organisationsverständnis wirft eine entscheidende Frage auf: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die Ablösung des bisher gängigen hierarchischen Prinzips durch das der Selbstführung nicht im Chaos endet?! Unbestritten ist inzwischen, dass mit diesem Weg im Zeichen agiler Organisationen experimentiert werden sollte; dies schon deshalb, weil keine Hierarchie der Welt in der Lage ist, die Dynaxity zu bewältigen. Und letztlich gibt es auch kein komplexes System, das durch Hierarchie gesteuert werden kann.
Dieses Gedankengut wurde u.a. in dem 2015 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Reinventing Organizations“ von Frederik Laloux ins Bewusstsein gehoben. Das Buch hat bei vielen Organisationsentwicklern und Beratern in den USA und Europa große Aufmerksamkeit erzielt. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass die Einsicht in die Begrenztheit heutiger Managementpraktiken bei der Bewältigung der Dynaxity bis in die obersten Etagen von Großkonzernen gewachsen ist und demzufolge händeringend nach neuen alternativen Konzepten gesucht wird.
Die folgenden Impulse – angeregt nicht zuletzt durch Eindrücke und Schlussfolgerungen aus einer Begegnung mit Frederik Laloux selbst sowie aus eigenen „experimentellen“ Erfahrungen – sollen zu weiterem Nachdenken darüber auffordern, wie das Prinzip „Selbstführung“ zu einem Treiber in der Weiterentwicklung von Prozessen und Strukturen werden kann.
Frederic Laloux sagt, dass natürlich Skepsis angebracht sei, wenn eine der tragenden Grundannahmen heutiger Organisationen, nämlich dass eine Gruppe einen Chef braucht, in Frage gestellt wird. Immerhin handle es sich dabei ja um ein über Jahrhunderte hinweg geltendes Steuerungsprinzip von Organisationen. Laloux ist nun weit davon entfernt, hier eine neue „Wahrheit“ verkünden zu wollen. In aller Bescheidenheit weist er aber darauf hin, dass in den von ihm untersuchten Organisationen verschiedene Personen mit viel Experimentieren auf eine neue Kohärenz gestoßen sind. Das heißt, es zeigen sich ähnliche Praktiken in der Steuerung der Organisationen, die sich fundamental von den Mainstream-Managementpraktiken unterscheiden.
Das „Wofür“ als entscheidende Kraft gelebter Selbstführung
Entscheidend scheint mir zu sein, dass eine Abwendung von hierarchischen Denkhaltungen und die Hinwendung zur Selbstführung nur dann gelingen, wenn eine Fokusverlagerung weg vom egozentrischen Eigeninteresse der Organisation und der in ihr tätigen Individuen stattfindet. Das kann nur bedeuten, dass das eigentliche, also nicht das vordergründige „Kundeninteresse“ konsequent in den Blick genommen wird – dies aber nicht im Sinne einer mainstreamartigen Absichtserklärung, sondern vielmehr als überzeugende Antwort auf ein klares „Wofür“, das über das unmittelbare Interesse der Organisation und vor allem auch das des Einzelnen hinausgeht.
Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass mit dem Nachdenken über agile Organisationen zugleich die sogenannte „Purpose-Diskussion“ einen immer größeren Raum einnimmt. Nun ist diese Fragestellung nichts Neues. Auf individueller Ebene wird das Gedankengut von Viktor Frankl mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Sinnfrage immer häufiger auch im unternehmerischen Kontext aufgegriffen. Auf organisatorischer Ebene hat u.a. die kanadischen Organisationsberaterin Birgit Willams im Rahmen des von ihr entwickelten Genuine Contact-Konzepts die Beantwortung der Frage nach dem Wofür einer Organisation als notwendige Bedingung für die nachhaltige Existenz und Weiterentwicklung eines Unternehmens herausgearbeitet.2 Wer dann auch schon einmal selbst mit dem Downsizing oder sogar der Insolvenz einer Organisation beschäftigt war, wird die Erfahrung bestätigen können, dass das Fehlen eines Existenzgrundes, der weit in die Zukunft verweist, sehr schnell in eine ökonomische Abwärtsspirale führen kann.3
Es darf also nicht überraschen, dass dort, wo hierarchische Prinzipien nicht mehr greifen und Netzwerkstrukturen mit sich selbstführenden Teams das Wort geredet wird, ein klares Wofür zur entscheidenden bindenden Klammer in der Unternehmenssteuerung wird. Die Erfahrung, wenn Mitarbeiter ihre jeweiligen Rollen und Aufgaben von einem gemeinsamen Sinn getragen bewältigen, macht einen kraftvollen Unterschied.
Diese extrem wichtige Klammerfunktion eines von allen getragenen Wofür bietet dann auch erst eine realistische Chance, das mit der Forderung nach mehr Selbstführung erhoffte Potenzial zu heben. Nur mit der starken Bindungskraft eines verinnerlichten gemeinsamen Sinns ist es überhaupt realistisch, dass die Mitarbeiter in den Teams nicht nur in Bezug auf die Arbeitsinhalte, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Rahmenbedingungen, die Gestaltung der Kundenbeziehungen, die Prozesse der Arbeitsverrichtung, usw. eigenständig Entscheidungen treffen.
Neben dieser Grundvoraussetzung, Selbstführung als handlungsleitendes Prinzip zu etablieren, sehe ich, aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen, zwei weitere Erfordernisse, damit „Selbstführung“ nicht auf Kosten der Mitarbeiter instrumentalisiert wird.
Managementpraktiken auf den Prüfstand stellen!
Die Umsetzung eines neuen Hierarchieverständnisses als Voraussetzung für das Prinzip der Selbstführung bedarf paralleler Veränderungen in einer Reihe weiterer Managementpraktiken. Es ist eine herausfordernde Aufgabe, diese Auswirkungen in der jeweiligen Organisation zu untersuchen, um dann mit alternativen Konzepten zu experimentieren. Es gilt vor allem, die gängigen Praktiken zu hinterfragen, z.B. in Bezug auf
- die Rolle des mittleren Managements,
- die Notwendigkeit von Unterstützungsfunktionen,
- die Besprechungshäufigkeit,
- Instrumente wie Organigramme, Stellenbeschreibungen, Stellenbezeichnungen,
- Konfliktlösungsprozesse,
- die interne Kommunikation,
- das Leistungsmanagement,
- die Festlegung und Verteilung von Rollen,
- die Vergütung- und Anreizsysteme.
Das ist aber der einfachere Teil der Übung. Denn:
Haltungsarbeit ist gefragt! – Die eigene Haltung als Führungskraft einer grundlegenden Revision unterziehen
Meine eigenen Erfahrungen mit der Einführung des Prinzips der Selbstführung in einem mittelständischen Unternehmen verweisen darauf, dass es entscheidend auf den Wandel in der Haltung der „Entscheider“ selbst ankommt. Und das ist keine leichte Übung, bei der es nur den „Lichtschalter“ umzulegen gilt.
Das betrifft naheliegender Weise die Haltung der „Entscheider“ in Bezug auf ihr Bild vom Mitarbeiter. Es geht darum, die eigene Haltung als Führungskraft einer grundlegenden Revision zu unterziehen, um sich klar zu werden, von welchen Motiven und Ängsten das eigene Führungsverhalten geleitet ist. Das ist in der Regel ein schmerzhafter und intensiver Prozess, in dem die sozialisierten Kontroll- und Allmachtphantasien zur Disposition gestellt werden müssen. Erst wenn dieser „Reinigungsprozess“ vollzogen ist, besteht überhaupt die Chance, dass das wachsen kann, was die Grundvoraussetzung agiler Organisationen schlechthin ist: Vertrauen. Vereinfacht und auf den Punkt gebracht:
Gesundes Selbst-Vertrauen ist die Ausgangsvoraussetzung, dass Vertrauen in die Selbstführung der Mitarbeiter wachsen kann. Letztlich geht es also wiederum um die Grundthematik jeder Organisation, die an ihrer internen Komplexität zu scheitern droht: Vertrauen versus Kontrolle.
Nur wo Vertrauen wächst, hat Selbstführung eine Chance
Im gleichen Maß wie Angst einer der teuersten Faktoren für ineffizientes Wirtschaften ist, im gleichen Maß sind es vertrauensbasierte Strukturen und Prozesse, die Verantwortung hervorbringen. Und es bedarf einer radikalen Überprüfung unserer Grundhaltung gegenüber den Mitarbeitern. Wir sollten uns auf den Weg machen, uns gegenseitig, Führungskräfte und Mitarbeiter, in das Vertrauen einzuüben, in das Vertrauen, dass der andere sein Bestes zum Wohle der Organisation gibt, das Richtige tut und die Aufgaben richtig erledigen wird. Dies scheint mir die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Mitarbeiter sich verantwortlich fühlen wollen für ein Gelingen dessen, was sie in Angriff nehmen.
Daher: Nur wer mit Vertrauen in Vorschuss geht, kann erwarten, dass der andere seine Verantwortung wirklich wahrnimmt! … Oder wie schon gesagt: Nur wo Vertrauen wächst, hat Selbstführung eine Chance.
Im gesamten Artikel wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei geschlechtsspezifischen Begriffen die maskuline Form verwendet. Diese Form versteht sich explizit als geschlechtsneutral. Gemeint sind selbstverständlich immer beide Geschlechter.