Das Werte- und Entwicklungsquadrat von F. Schulz v. Thun
Gerade beim Thema „Unterschiedlichkeit“ treffen Gegensätze aufeinander. Werte, Verhaltensweisen, Eigenheiten, die zueinander in Spannung stehen und sich mitunter wechselseitig in Frage stellen. Friedemann Schulz von Thun bietet mit seinem Werte- und Entwicklungsquadrat einen Ansatz, der dazu interessante und wertvolle Erkenntnisse bringt.
A stellt fest, dass B grundlegend anders ist. Jedenfalls in seinem Auftreten und Handeln, vielleicht auch in seinem Denken und Sein. Dasselbe denkt sich B von A. A und B können einzelne Menschen, aber auch ganze Gruppen und Organisationsteile sein.
Wer schon einmal eine Fusion mit einer anderen Abteilung oder einem anderen Unternehmen miterlebt hat, weiß, wie schnell man mit Zuschreibungen nach dem Muster „Wir im Gegensatz zu den Anderen“ bei der Hand ist. Und wie rasch sich solche Dynamiken verselbständigen können. Man beschäftigt sich mit Fragen wie: Welcher Zugang ist besser? Wer hat Recht? Wer wird sich durchsetzen? Unterschiedlichkeit sorgt für Spannung. Es kommt oft zu Reibung oder Lähmung.
Da stellt sich natürlich die Frage: Wie kann man professionell und konstruktiv mit derartigen Polaritäten zurechtkommen?
Friedemann Schulz von Thun wird den meisten mit seiner Kommunikationstheorie des 4-ohrigen Empfängers bekannt sein. Im zweiten Band seines Klassikers („Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung“, 1989) entwickelt er ein weiteres äußerst hilfreiches Modell, das Werte- und Entwicklungsquadrat. Ein, wie ich meine, schlichtweg geniales Modell: klar und einfach in seiner Konstruktion, durchaus anspruchsvoll in der Anwendung, mit dem nötigen Tiefgang und vor allem sehr nützlich in vielerlei Hinsicht.
Sehen wir uns zuerst das von ihm skizzierte Standard-Beispiel an. Es geht dabei um Werte und Eigenschaften im Umgang mit Geld.
Zwischen den einzelnen Elementen bestehen folgende Beziehungen:
- 3 und 4 sind „entwertende Übertreibungen“ von 1 bzw. 2. Das negative Extrem von Sparsamkeit ist Geiz, das von Großzügigkeit ist Verschwendung.
- 1 zu 4 (bzw. 2 zu 3): Die Diagonalen stellen konträre Gegensätze zwischen einem Wert und einem Unwert, einer Tugend und einer Untugend dar. Wenn eine Untugend dominiert, kommt die schräg gegenüber liegende Tugend zu kurz. Einem geizigen Menschen mangelt es an Großzügigkeit, einem verschwenderischen an Sparsamkeit.
- 1 zu 2: Zwischen diesen beiden Werten besteht ein positives Spannungsverhältnis. Sie ergänzen einander auf optimale Weise. Das Eine ohne das Andere verkommt auf Dauer zur entwertenden Übertreibung. Ein sparsamer Mensch, der nie großzügig ist, gerät auf Sicht in Gefahr, sich zu einem Geizhals zu entwickeln.
- 3 zu 4 beschreibt eine „Überkompensation“. Das Pendel schlägt ins andere Extrem aus. Eine Radikalkur, die der Volksmund „den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“ oder „vom Regen in die Traufe kommen“ nennt. Ein persönlicher Mangel wird so stark überwunden, dass es des Guten zu viel wird. Der Geizhals wird plötzlich verschwenderisch: Er hat die positiven Qualitäten seines Geizes, nämlich die Sparsamkeit, über Bord geworfen und versucht so, sich seiner ihm lästig gewordenen Eigenschaft Geiz zu entledigen.
Das Grundprinzip des Werte- und Entwicklungsquadrats:
Jeder Wert, jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal kann nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn es in Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer „Schwestertugend“ gehalten wird.
Was hat nun dieses Werte- und Entwicklungsquadrat mit unserem Thema „Unterschiedlichkeit“ zu tun?
Schon allein von seiner Grundidee sehr viel! Setzt es doch nicht auf ein Entweder-Oder und auch nicht auf ein banales „Die Wahrheit liegt stets in der Mitte“, wenn unterschiedliche Zugänge aufeinander treffen. Sondern auf die positive, bereichernde Spannung einander ergänzender – scheinbar gegensätzlicher, tatsächlich jedoch komplementärer – Werte.
Wie auch im Artikel „Mythos Diversity“ ausgeführt, könnte ein Wertequadrat zum Thema Unterschiedlichkeit etwa folgendermaßen aussehen:
„Unterschiedlichkeit“ und was das Modell des Werte- und Entwicklungsquadrats dazu anbietet:
- Wenn zwei Gegensätze aufeinander treffen, kommt es oft zu einer Abwertung der Eigenschaften des Anderen. Dies können entwertende Übertreibungen der Stärken des Anderen sein.
- Jede Eigenschaft, jeder Charakterzug, jedes Verhalten kann – zumindest in seinem konstruktiven Kern – als wertvolle Qualität und Kompetenz betrachtet und genutzt werden. Selbst die vermeintlich schlimmsten Untugenden beinhalten stets auch wertvolle Aspekte und Fähigkeiten.
- Die „Waage der Wahrheit“ zwischen den beiden positiven Werten hat keine statische, sondern eine dynamische Balance zum Ziel. Je nach Situation ist das Ideal eher bei 1 oder bei 2 zu finden. Es kann gut möglich sein, dass die situativ ideale Ausrichtung ganz im einen oder anderen Ende der Skala liegt. Eine wichtige Rolle spielt hier also der Kontext der Betrachtung.
- Letztlich geht es also nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Und, das beide Polaritäten auf wertschätzende Weise zulässt und sogar miteinander verbindet. Und dies nicht nur in der Polarität einzelner divergierender Werte, sondern auch in der balancierten Spannung von Gemeinsamkeit bzw. gemeinsamer Ausrichtung und Unterschiedlichkeit.
Und hier landen wir wieder bei unserem Forschungsschwerpunkt „Unterschiedlichkeit in Unternehmen“ – etwa in punkto Herkunft und Generationen.
Wie sieht das bei Ihnen aus? Welche Spannungen erleben Sie in Ihrem Unternehmen?
Wie wirken sich die Spannungen im Alltag aus? In Begegnungen, Meetings, Arbeitsprozessen?
Wie sehr hat das mit Ausschließlichkeit zu tun? Wo heißt es „Entweder – oder“?
Wo passt das „Und“?
Wie gut erleben Sie Ihr Unternehmen dabei in Balance? Wie viel Verschiedenheit in punkto Herkunft, Lebensalter, Erfahrung etc. erleben Sie als hilfreich? Wie weit gelingt die Balance von Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit? Wie können Sie die Vielfalt nutzen, das Und als Bereicherung erleben?